Konrad Elmer-Herzig Texte und Reden von Konrad Elmer-Herzig

20. Mai 2009

Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Verfassungsrang

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Dr. Konrad Elmer-Herzig, Nansenstr. 6, 14471 Potsdam, Tel.: 9512904, elmer-herzig@gmx.de

Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn

im Verfassungsrang[1]

Konrad Elmer-Herzig

Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich

und verzehrte meine Kraft umsonst …

Jes 49,4

Die vom Europäischen Konvent erarbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union[2] – inzwischen Grundrechtsteil des Vertrages über eine Verfassung für Europa[3] – enthält in ihrer Präambel den Satz: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“ [4] Wie ist zu erklären, dass der Deutsche Bundestag dem problemlos zustimmte,[5] obwohl trotz größter Anstrengungen ein entsprechendes Anliegen im deutschen Einigungsprozess nicht verwirklicht werden konnte, nämlich Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn verfassungsrechtlich zu verankern?[6]

Am Beginn meiner damaligen Bemühungen stand die persönliche Erfahrung gelungener Mitmenschlichkeit jenseits staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Vorgaben in der Diktatur des realen DDR-Sozialismus. Die Schwierigkeiten und Defizite, in denen wir Ostdeutsche 40 Jahre zu leben hatten, beförderten ein Netzwerk zwischenmenschlicher Beziehungen. Für mich waren dies vor allem vielfältige Bezüge im kirchlichen Bereich, insbesondere in der Evangelischen Studentengemeinde Halle/S.[7] Nach der Wende entstand der Gedanke, dieses erfreuliche Nebenprodukt einer unerfreulichen Epoche in die neue Gesellschaft hinüberzuretten. Denn schon bald nach der deutschen Einheit zeichnete sich ab, dass außer Berlin als Hauptstadt und dem Grünen Pfeil für Rechtsabbieger nichts DDR-Spezifisches erhalten bleiben würde. Sollte aus unserer Zeit mehr überdauern, so war mir deutlich geworden, müsste dieses grundsätzlich Erstrebenswerte seinen Niederschlag in den Grundstrukturen der Gesellschaft, wenn möglich in der Verfassung, finden.

Als ich im Frühjahr 1991 von der SPD-Fraktion in die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK) gewählt wurde[8], fragte ich mich, worin ein spezifisch ostdeutscher Beitrag bestehen könnte. Mir war noch gut in Erinnerung, dass unsere westdeutschen Verwandten und Freunde bei allem, was sie im Osten zu Recht als schrecklich empfanden, meinten, es gäbe bei uns eine unkomplizierte Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit im persönlichen Umgang sowie mehr menschliche Wärme im Familiären und im Freundeskreis. Das sei im Westen so leider nicht mehr gegeben, vor allem, weil man nicht derart existentiell aufeinander angewiesen sei. Tatsächlich stellte auch ich trotz aller Herzlichkeit, die mir nach der Wende im Westen begegnete, ein etwas kühleres Gesamtklima im Umgang miteinander fest. Z.B. hatte ich in Bonn zu lernen, dass ich nicht jeden Kollegen einfach ansprechen und zu einer mir wichtigen Sache befragen konnte. Vielmehr war erst vorsichtig zu klären, ob der andere momentan überhaupt gewillt sei, mir sein Ohr zu leihen bzw. es ihm passen würde, gerade dies mit mir jetzt zu erörtern. Umgekehrt hörte ich Westdeutsche über den Osten klagen: Die Leute haben zu wenig Distanz, rücken einem immer gleich auf die Pelle, ja fallen mit der Tür ins Haus. Natürlich ist das überspitzt formuliert, aber etwas muss wohl daran sein, wenn man es von unterschiedlicher Seite zu hören bekommt. So war ich auf der Suche, für jenes ostdeutsche Spezifikum den passenden Begriff zu finden.

Im Frühjahr 1992 übergab mir der SPD-Obmann in der GVK, Hans-Jochen Vogel, einen Stapel Petitionen zur Kulturstaatlichkeit, insbesondere mehrere ihm zugesandte Veröffentlichungen von Helmut Breuer[9]. Bald darauf rief dieser mich an, und wir vereinbarten ein Treffen für den 3. Mai in meiner Pankower Wohnung. Ich sehe uns noch heute bei schönem Wetter im Garten sitzen, er in kaum endendem Redefluss sein sogenanntes ‚biosophisches’ Weltbild entfaltend und ich nach einem Begriff suchend für die Gemeinschaftsverbundenheit als ostdeutschen Beitrag zur Verfassungsdiskussion. Als in Breuers Rede der Begriff „mitmenschlich“ auftauchte, fiel mir ein, dass für Karl Barth, über dessen Theologie ich einst promovierte,[10] die Mitmenschlichkeit der anthropologische Zentralbegriff ist und er schwerste Vorwürfe gegen alle richtete, die das anders sehen: „Si quis dixerit, hominem esse solitarium, anathema sit!“[11] Darum vereinbarte ich mit Breuer, den Begriff Mitmenschlichkeit ins Zentrum gemeinsamer Verfassungsbemühungen zu stellen. Am 18. August schrieb ich einen entsprechenden Brief an Vogel, in dem ich ihm vorschlug, das westeuropäisch-atlantisch geprägte Grundgesetz mit seiner Betonung der individuellen Freiheitsrechte durch den die menschliche Gemeinschaft konstituierenden Begriff Mitmenschlichkeit als Ost und West einigendes Band zu ergänzen. Wegen der größeren Erfolgsaussichten wolle ich mich in dieser Sache um einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag bemühen.[12]

Beim ersten Zusammentreffen nach der Sommerpause sprach Vogel wohlwollend über meinen Brief und die beigelegten von Breuer inspirierten Ergänzungsvorschläge.[13] Zwar schien er selber davon noch nicht überzeugt zu sein, ich sollte die Sache jedoch weiter verfolgen. Er riet mir, den juristisch schwierigen Begriff Mitmenschlichkeit nicht auch noch mit dem von Breuer favorisierten Begriff Wahrhaftigkeit zu belasten. Dementsprechend legte ich in der nächsten SPD-Arbeitsgruppensitzung nur einen gekürzten Satz vor. Art. 7 (3) solle lauten: „Bildung zur Mitmenschlichkeit erfährt besondere Förderung.“[14]

Die Vertreter der Länder äußerten große Bedenken, in der Bundesverfassung ein Bildungsziel zu verankern. Ähnlich hatte schon der Verfassungsrechtler Isensee in der Anhörung zu den Staatszielen Bildung und Kultur am 16. Juni auf meine Frage geantwortet, ob wir nicht ein regulatives Prinzip wie „wahrhaftiges Bemühen um zwischenmenschliches Verständnis“ als Bildungsimpuls verankern sollten.[15]Damals gab er zu bedenken: Das sei „Thema der Landesverfassungen“. Dort allerdings dürfe sich „die Neigung zu Volkspädagogik und Volkskatechese“ sinnvoll äußern.[16]

Im weiteren Verlauf versuchte ich, möglichst viele Fraktionskolleginnen und -kollegen für die Sache zu gewinnen. Dabei stieß ich bei den Juristen auf wenig Resonanz. Später gelang es mir, einen Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit zu veröffentlichen.[17] Dort wies ich darauf hin, dass Mitmenschlichkeit mehr bedeute als der in der DDR missbrauchte Begriff Solidarität. Mitmenschlichkeit sei im Sinne Barthscher Anthropologie ein Wesenszug menschlichen Seins.[18] Außerdem verwendete ich den von Willy Brandt gern gebrauchten Begriff compassion, Mitgefühl, Mitleidensfähigkeit und verwies auf die Forderung Erich Fromms, von den zerstörerischen Formen der Hab-Gier Abstand zu nehmen und eine Kultur wahrhaftigen Mensch-Seins zu entwickeln. Was Not tue, sei ein reflektiertes Verhältnis zwischen Individualität und Soziabilität, Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit. Ich plädierte für eine Verankerung der Mitmenschlichkeit:

1. in der Präambel: „Im Bewußtsein,…dem Frieden, der Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit in der einen Welt zu dienen…“

2. in Art. 7(1): „Grundlegendes Bildungsziel ist Persönlichkeitsbildung zu Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit.“

Zu letzterem gab es bei den Ländervertretern wiederum große Vorbehalte. Vor allem Kultusminister Walter (Saarland, SPD) sah die Kulturhoheit der Länder gefährdet. Es gelang mir, in Einzelgesprächen dieses soweit auszuräumen, dass Vogel im Obleutegespräch mein Anliegen zu Art. 7(1) auf die Tagesordnung setzen konnte. Außerdem

hatte ich meinen Vorschlag allen Abgeordneten zukommen lassen,[19] woraufhin die CDU-Abgeordnete Rahardt-Vahldieck mir ihr Interesse bekundete.

In der nächsten Sitzung der GVK am 6.5.’93 erklärte ich zur Antragsbegründung,[20] die Mitmenschlichkeit sei ein grundlegendes Bildungsziel, denn der Mensch würde zum einen als Individuum seine Persönlichkeit entfalten, zum anderen sei er unabweisbar ein soziales Wesen, das sich nur im Zusammenhang mit anderen verwirklichen könne. Schon deshalb habe jeder auch eine Verantwortung für seine Mitmenschen. Neben der erwähnten Mitleidensfähigkeit verwies ich auf Jonas und sein ‚Prinzip Verantwortung‘ sowie auf die Rede Dürrs vom ‚Wärmetod der Zwischenmenschlichkeit‘ in unserer permissiven Gesellschaft. Mein Anliegen habe bei den Müttern und Vätern des Grundgesetzes wohl deshalb keine Rolle gespielt, weil dergleichen in den schweren Nachkriegsjahren viel zu selbstverständlich war, als dass dies eigens hätte ins Bewusstsein treten können. Ähnlich stelle sich die Sinnfrage erst dann, wenn den Menschen Lebenssinn abhanden gekommen ist. Entsprechend sei damals die Würde des Menschen stark verankert worden, weil sie zuvor mit Füßen getreten wurde. Dass der Gedanke der Mitmenschlichkeit heute auf die Tagesordnung komme, zeige, dass in unserer Gesellschaft hinsichtlich dieses Aspekts menschlicher Existenz ein Defizit zu spüren ist. Zu erkennen sei dies an der Atomisierung unserer Gesellschaft, am Rückzug ins Private und an mangelndem Gemeinsinn, so dass bisweilen schon von einem exzessiven Egoismus gesprochen wird.

Den Ost-West-Gedanken aus meinem Zeit-Artikel habe ich damals in folgender Weise verändert: Es äußere sich hier ein spezielles Anliegen ostdeutscher Befindlichkeit – nicht primär, weil es bei uns mehr Mitmenschlichkeit gäbe, sondern weil uns im Einigungsprozess das gelegentliche Fehlen dieses Aspekts besonders schmerzlich bewusst geworden sei. Auch verwies ich auf Václav Havels Bemerkung, dass man in der Diktatur die Bedeutung von Solidarität, persönlichem Risiko und Opfer erfahren und einige Geschenke des Lebens zu achten gelernt habe. Es gelänge bislang jedoch noch nicht besonders gut, diese Erfahrungen zu artikulieren und damit das europäische Bewusstsein zu bereichern.

Weiterhin führte ich aus, dass wir die Fähigkeit des Menschen zum Altruismus und dessen gesellschaftliche Notwendigkeit stärker betonen sollten.[21] Auch sei zu bedenken, dass nur wer sich in seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu begreifen vermag und einfühlsam mit sich selber umgeht, auch seinen Mitmenschen Selbstachtung vermitteln und ihnen einfühlsam begegnen könne. Auf den Zwischenruf „Verfassungslyrik“ entgegnete ich: Wenn es den Begriff Menschenwürde in unserer Verfassung noch nicht gäbe und jemand die Aufnahme dieses Begriffs fordern würde, würde er gewiss den gleichen Vorwurf ernten. Eine Verfassung ist der Grundlagenvertrag einer Gesellschaft und also mehr als eine Juristenverfassung. Menschen leben nicht nur in justiziablen Bezügen. Sie sind vor allem von Wertvorstellungen geprägt. Deshalb z.B. enthält die Hamburger Landesverfassung von 1952 nicht nur Rechte, sondern in ihrer Präambel auch „die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken.“[22]

Der Kulturhoheit der Länder Rechnung tragend wurde von mir bemerkt, dass dieses Bildungsziel, weil es das Menschsein überhaupt betreffe, so grundlegend sei, dass dadurch gar keine Länderspezifika berührt würden. Entsprechend hätten unlängst alle Kultusminister und Senatoren erklärt, „Initiativen anzuregen und zu stärken, die in Schule und Gesellschaft ein mitmenschliches Verhalten fördern.“[23]

Auf die Frage, was diese Verfassungsänderung bewirken könne, verwies ich auf die Gestaltung von Lehrplänen und Schulbüchern und darauf, dass jedes Wort der Verfassung bei Güterabwägungen herangezogen werden könne. So sei zu vermuten, dass es z.B. im Blick auf die Vereinsamung alter Menschen vom Begriff der Mitmenschlichkeit her neue Impulse für unsere Gesellschaft geben werde. Auch würden Urteile, mit deren Hilfe Urlauber vom Reiseveranstalter einen Teil ihres Geldes zurückbekamen, nur weil ein Behinderter der Reisegesellschaft angehörte, dann nicht mehr möglich sein.

Vor allem brächte diese Verfassungsergänzung uns Ostdeutschen nicht nur eine bessere Identifikationsmöglichkeit mit dem Grundgesetz, sondern einen Punkt, an dem wir uns im Einigungsprozess ernst genommen fühlten, weil hier auch einmal etwas von uns für ganz Deutschland übernommen würde und nicht nur immer umgekehrt wir alles Westdeutsche zu übernehmen hätten. Václav Havel betone zu Recht: Es gäbe offenbar auch unter einer Diktatur Dinge, die sich entwickeln können und bei denen es sich lohnt, in der endlich errungenen Freiheit über ihre Akzentsetzung nachzudenken.

Als Erster reagierte, mich unterstützend, Kultusminister Walter, obwohl er in der SPD-Arbeitsgruppe lange zu den Bedenkenträgern gehörte: Für ihn schließe der reiche Blumenstrauß an Bildungszielen, den wir in den Länderverfassungen finden, nicht mehr aus, dass einzelne überragende Erziehungsziele von allgemeingültiger ethischer Bedeutung und allgemeinem Bewusstsein auch in das Grundgesetz aufgenommen werden könnten, ohne dass hierdurch die Kompetenzverteilung im Kulturbereich beeinträchtigt wird. Die mit zunehmender Gewaltbereitschaft einhergehenden Gefahren für den verfassungsrechtlichen Kern unseres demokratischen Rechtsstaats würden es notwendig machen, auf solche Gefahren auch auf dieser Rechtsebene zu reagieren. Das habe nicht nur defensiv zu geschehen, sondern, wie hier vorgeschlagen, zugleich positiv mit dem Ziel der Persönlichkeitsbildung zu Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit.

Hirsch (FDP) und Wilhelm (CSU) lehnten ab, Letzterer mit dem Argument, es sei nicht einsichtig, warum gerade diese beiden Erziehungsziele an so herausragender Stelle stehen sollten und nicht statt dessen vielleicht „Erziehung zur Solidarität und zum Gemeinschaftsdenken“.

Heuer (PDS) signalisierte Zustimmung, ergänzte jedoch, dass dergleichen idealistisch bliebe, solange nicht auch jene gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse angegangen würden, die der Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit entgegenwirkten, solange also soziale Grundrechte und soziale Staatsziele nicht gleichfalls aufgenommen würden.

Innenminister Bull (Schleswig-Holstein, SPD) unterstrich: Es zeige sich bei den Gegnern dieser Verfassungsergänzung ein bedauerlicher Mangel an Sensibilität für die nicht streng juristischen Funktionen einer Verfassung. Nach seinem Eindruck glaubten manche, eine Verfassung müsse sich auf harte Normen für harte Macher beschränken. Die halbe Präambel würde dann jedoch diesem Urteil verfallen. Die vorgeschlagene Ergänzung sei eine Ermutigung für Lehrer, die sich nicht auf bloße Wissensvermittlung beschränkten, sondern die Persönlichkeit ihrer Schüler bilden wollten. Jedem, der unsere Gesellschaft in diesen Jahren beobachte, sei klar, dass wir ein Übermaß an Selbstentfaltung, Egoismus und Sankt-Florians-Verhalten vorfinden. Dies würde von unserer derzeitigen Verfassung sogar gefördert. Man könne nämlich sagen, Art. 2 Abs. 1, das Obergrundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, sei das, was die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft bewogen habe, primär an ihren Geldbeutel, ihr Fortkommen und ihren privaten Erfolg zu denken. Daher wäre es wohl begründet, auch die Gegenposition in die Verfassung zu schreiben.[24]

Ministerin Schoppe (Bündnis90/Die Grünen) hatte Probleme mit dem Begriff Mitmenschlichkeit[25] und plädierte stattdessen für „freie Selbstbestimmung und soziale Verantwortung“.[26]

Rahardt-Vahldieck zeigte Sympathie weniger für eine Ergänzung in Art. 7 als vielmehr in Art. 2 (1), weil die Sache dort mit erheblich höherem Rang, ja Vorrang versehen sei. Das Grundgesetz habe in seiner Entstehungszeit die Abwehrrechte gegen den Staat und die Freiheitsrechte des Einzelnen betonen müssen. Der Gesichtspunkt der Mitmenschlichkeit sei als Grundlage einfach vorausgesetzt gewesen. Die Menschenwürde sei ohne Mitmenschlichkeit nicht denkbar. Offenbar sei damals die Auffassung allgemein gewesen, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe seien bereits in Art. 1 und in der Präambel angelegt und einer besonderen Ausformulierung nicht bedürftig. In ihrer Fraktion gäbe es zu diesem Antrag noch erheblichen Beratungsbedarf. Denn wenn wir anfangen, Normen oder Aussagen unterzubringen, die staatlicherseits nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden können oder an die Handlungen zu knüpfen gar nicht beabsichtigt ist, dann wird es schwierig, weil die Mitmenschlichkeit nicht der einzige Begriff ist, der in dieser Verfassung gut untergebracht wäre.

Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen) konnte das Anliegen nur kurz unterstützen, da er von Scholz in seiner Rede unterbrochen und zur Verlesung der angekündigten Erklärung zur bevorstehenden Einstellung seiner Mitarbeit in der Verfassungskommission aufgefordert wurde. Ullmann begründete sein Ausscheiden damit, dass ein Einstehen für die Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Bevölkerung in den Ostländern unter den in dieser Kommission gegebenen Bedingungen nicht möglich sei. Er sei nicht bereit, die Verantwortung hierfür weiter mitzutragen.[27]

Nach dieser zum Verhandlungsgegenstand sinnreich passenden Unterbrechung bedauerte die Niedersächsische Ministerin Alm-Merk (SPD) das Ausscheiden Ullmanns. Die deutsche Bevölkerung aus der ehemaligen DDR habe sicher mehr erwartet, als wir hier bisher erreichten. Die Mitmenschlichkeit in das Grundgesetz aufzunehmen, sei des Nachdenkens wert. Gerade nach dem Weggang Ullmanns solle man überlegen, ob es angesichts der vielen Erfahrungen, die von den einen erlebt, von den anderen allenfalls beobachtet werden konnten, nicht ratsam sei, auf eine solche ostdeutsche Stimme zu hören.[28]

Im Weiteren kam ich zu der Auffassung, dass die Grundrechtsartikel nichts anderes sind als präzisierende Auslegungen des verfassungsrechtlichen Oberbegriffs Menschenwürde, die entsprechend der französischen Revolution als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu entfalten ist. Im Grundgesetz geschieht dies einseitig zu Gunsten der Freiheitsrechte. Schon in der Präambel findet sich ein solcher Vorrang durch das Achtergewicht des Freiheitsbegriffs und seine Verstärkung durch die Wendung „in freier Selbstbestimmung“. Im Grundrechtsteil steht die Freiheit nicht nur an erster Stelle, sondern wird in nachfolgenden Artikeln weiter verstärkt. Nachdem auch die Gleichheitsrechte weiterentwickelt wurden,[29] verbleibt als dringliche Aufgabe, der dritten Dimension menschenwürdigen Lebens, der Brüderlichkeit, zum Recht zu verhelfen. Offensichtlich besteht bei der Entfaltung der Würdeverpflichtung des Art. 1 ein „kodifikatorisches Ungleichgewicht“[30] zwischen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Letztere sucht man im Grundgesetz vergeblich.[31] Lediglich Solidarität klingt in den Artikeln 6,12(2),13(3),14(2,3) und 15 von Ferne an und ist im Staatsziel ’sozialer Bundesstaat’, Art. 20(1), zu finden. Das steht jedoch in keinem Verhältnis zu der starken Verankerung der Gleichheit und erst recht nicht zu dem alles andere überragenden Freiheitsbegriff.

Dagegen enthält der Verfassungsentwurf des Runden Tisches im Kapitel Menschen- und Bürgerrechte einen Gedanken, der in der Lage ist, die Brüderlichkeit zum Ausdruck zu bringen: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“[32] Zwar liegt im Begriff der Anerkennung die Möglichkeit einer relativ distanzierten Bezugnahme auf den Mitmenschen. Das Wort ’schuldet‘ involviert jedoch ein im Falle der Ungleichheit dem anderen helfendes Zur-Seite-Stehen, das dem Anliegen der Mitmenschlichkeit nahe kommt.[33]

Der Entwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder ergänzt diesen Gedanken in der Präambel durch den Satz vom „Gemeinwesen… in dem das Wohl und die Stärke Aller aus dem Schutz der Schwachen erwächst.“ Beim Begriff Schutz bleibt wiederum ein relativ distanziertes Verhältnis zum Mitmenschen möglich. Immerhin wird die Bereitschaft gefordert, Schaden von ihm abzuwenden. Im Grundrechtsteil heißt der für unsere Thematik entscheidende Satz: „Alle erkennen einander als Gleiche in ihrer Würde an.“[34] Zum einen ist durch Wegfall des Wortes ’schuldet‘ die Distanzierungsmöglichkeit größer geworden. Zum anderen könnte durch den später folgenden Begriff Teilhabe[35] der Boden für die Brüderlichkeit bereitet sein.

Zum erste Berichterstattergespräch am 27.5.1993 legte ich vier Varianten zur Platzierung der Mitmenschlichkeit im Grundgesetz vor:

1. Die Ergänzung der Schrankentrias in Art. 2 um das „Gebot der Mitmenschlich-

keit.“

2. Einen neuen Absatz in Art. 2: „Jeder ist zur Mitmenschlichkeit aufgerufen.“

3. Eine Ergänzung in Art.7 (1): „Grundlegendes Bildungsziel ist Persönlichkeits-

bildung zu Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit.“

4. wie 3., aber im Vorsatz statt „Aufsicht des Staates“ jetzt „Aufsicht der Länder“,

um die Bedenken der Länder, ihre Kulturhoheit betreffend, auszuräumen.[36]

Rahardt-Vahldieck unterstützte mich damals noch zögernd fragend, ob es notwendig sei, den Begriff Mitmenschlichkeit im Grundgesetz gesondert zu erwähnen. Unbeschadet dessen würde sie einer Verortung dieses Begriffs in Art. 2 den Vorzug vor einer Platzierung in Art. 7 geben, weil Letzteres die Mitmenschlichkeit auf die Bildung reduziere. Es solle jedoch die Werteordnung des Grundgesetzes im Ganzen ergänzt werden. Die zunehmende egoistische Grundhaltung, die aktuellen Gewalttätigkeiten sowie ein allgemein zu beobachtender Verfall der Sitten und gesellschaftlichen Übereinkünfte rechtfertige die Aufnahme dieses verfassungsrechtlichen Signals zur Gegensteuerung.

Justizminister Remmers (Sachsen-Anhalt, CDU) erklärte: Ähnlich der verfassungsrechtlich festgelegten Sozialpflichtigkeit des Eigentums sei es vorstellbar, in dieser Weise eine Sozialpflichtigkeit der Freiheit verfassungsrechtlich zu begründen. Hierfür sei Art. 2 der richtige Ort. Ihm läge an der Signalwirkung eines mitmenschlichen Polsters vor den Rechtsgrenzen. Er stelle sich indes die Frage, wie das Gebot der Mitmenschlichkeit von Staats wegen durchgesetzt werden könne.

Justizminister Helmrich (Mecklenburg-Vorpommern, CDU) meinte: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit dürfe nicht auf Kosten der Mitmenschlichkeit gehen. Bei aller Sympathie für den Vorschlag bestehe in der Arbeitsgruppe Verfassungsreform seiner Fraktion keine große Neigung zu dessen Verwirklichung.

Bull wollte das eher hierarchisch dem Menschen vorgehaltene Sittengesetz in Gänze durch den gleichberechtigt wirkenden Begriff Mitmenschlichkeit ersetzen.

Ministerialdirektor Heyde (Bundesministerium der Justiz) legte dar, dass Variante 2 die Qualifikation der Mitmenschlichkeit als Staatsziel vermeide, weswegen ihm die systematische Einordnung meines Anliegens unter die Staatsziele nie eingeleuchtet habe.[37] Weiterhin stelle er die Frage nach der Justiziabilität der Mitmenschlichkeit.

Walter meinte, es sei problematisch, zwischen den Abwehr- und den Freiheitsrechten den Aufruf zur Mitmenschlichkeit einzuordnen.

Dem widersprach Bräutigam (Brandenburg, SPD) mit dem Argument, es gäbe auch sonst im Grundgesetz durchaus die Vermischung von Rechten und Pflichten.

Ministerialdirektor Bergmann (Bundesministerium des Innern) wies darauf hin, dass die Ausübung von Rechten grundsätzlich nur durch ein ethisches Minimum begrenzt werde und also eine Antinomie zwischen den Rechten anderer und der Mitmenschlichkeit entstehen könne.

Bull hob hervor, dass durch den Mitmenschlichkeitsbegriff durchaus ein anderer Ton in die Verfassung käme.[38]

Busch betonte, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtssprechung das Menschenbild des Grundgesetzes nicht als das eines isolierten souveränen Individuums gesehen, sondern immer die Gemeinschaftsverbundenheit und Gemeinschaftsbezogenheit der Person betont habe.[39] Er wies darauf hin, dass Bedenken aus Art. 79 (3) gegen unsere Änderung schon deshalb nicht zu erwarten seien, weil 1956 sogar Art. 1(3) ohne Einwendungen geändert wurde. Dies ließ in mir den Gedanken aufkommen, man könne die Mitmenschlichkeit vielleicht sogar folgendermaßen in Art 1(2) einfügen: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens, der Gerechtigkeit und der Mitmenschlichkeit in der einen Welt.“

Zwei Wochen später zum 2. Berichterstattergespräch am 17. Juni hatte ich in meinen ‚Erweiterten Vorschlägen’[40] Art. 2(2) und 2(3) getauscht, so dass der Satz, „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit aufgerufen“, am Ende von Art. 2 stand. Vorschlag 4 war gestrichen, stattdessen fügte ich zwei neue Platzierungsvorschläge hinzu. So wollte ich für obigen Aufruf einen eigenen Artikel 2a oder 3a schaffen. Damit hätten wir gleichberechtigt je einen Artikel für Freiheit, einen für Gleichheit und einen für Mitmenschlichkeit als die drei grundlegenden Auslegungen der Menschenwürde geschaffen. Zur Diskussionseröffnung verwies ich auf den soeben stattgefundenen Evangelischen Kirchentag mit seiner Forderung nach einem „Netz der Mitmenschlichkeit“ .

Steinbach-Hermann (CDU) berichtete, dass in ihrer Fraktion Sympathie für das Anliegen zu beobachten sei. Ob sich diese Sympathie zu einer positiven Mehrheitsentscheidung verstärken werde, lasse sich jetzt noch nicht sagen. Vor allem sei die mangelnde Justiziabilität eines Gebots der Mitmenschlichkeit offenkundig.

Bräutigam betonte: Die gegenwärtigen Zeitumstände, gekennzeichnet durch gewalttätigen Rechtsextremismus, seien für die Aufnahme der Mitmenschlichkeit in das Grundgesetz günstig. Hierbei handle es sich nicht allein um ein Anliegen der Neuen Bundesländer, sondern der gesamten Bundesrepublik. An der Standortfrage dürfe die Sache nicht scheitern. Da die Mitmenschlichkeit der Menschenwürde nahe stehe, gehöre sie zu den Grundlagen unserer Verfassung. Deshalb wäre ein eigener Artikel in dessen Nähe angemessen.[41]

Rahardt-Vahldieck schlug vor, die Mitmenschlichkeit um die Forderung nach Gemeinsinn zu ergänzen. Dies war ein von Helmrich stammender Gedanke, den wir drei im Vorfeld einvernehmlich diskutiert hatten.

Ich verwies auf den anthropozentrischen Aspekt der Mitmenschlichkeit, der durch den Gemeinsinn als Verantwortung für Staat und Gesellschaft bis hin zum Erhalt der Schöpfung sinnvoll ausgeglichen würde und favorisierte einen eigenständigen Artikel 2a oder 3a: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.“[42]

Im 3. und letzten Berichterstattergespräch am 1. Juli erklärte Rahardt-Vahldieck: Der Eindruck in ihrer Arbeitsgruppe werde wohl insgesamt mit der Feststellung wiedergegeben, dass unser Vorschlag nicht notwendig sei – indes aber auch nicht schade. Sie empfahl einen Gruppenantrag, bei dem auch Ländervertreter unterschreiben sollten. Helmrich besitze bereits einen entsprechenden mecklenburgischen Kabinettsbeschluss.

Die anwesenden Beauftragten der Bundesregierung gaben zu bedenken, dass unser Vorschlag verfassungssystematisch ein Fremdkörper sei.

Schmude (SPD) erwiderte: Die Gemeinsame Verfassungskommission solle den Mut haben, das Grundgesetz um ethische Postulate zu bereichern. Die Wertevorstellung des Grundrechtsteils der Verfassung würde durch diese Ergänzung eine bestimmte Akzentuierung erfahren. Der Vorschlag stelle keine Grundrechtsschranke dar. Auch könnten Rechtsansprüche aus ihm nicht abgeleitet werden.

Abschließend einigten sich die Berichterstatter auf folgenden Antragstext:

„In das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wird folgender neuer Artikel eingefügt: Artikel 2a: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.“

Dieser Antrag wurde am noch am gleichen Tag zur 25. Sitzung der GVK eingebracht. Ich gab meinen Redebeitrag, der die bisherigen Argumente zusammenfasste, zu Protokoll.[43] Darin definierte ich die Mitmenschlichkeit als das neutralere Wort für Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Es entspräche der in der Präambel angesprochenen Beseeltheit, dem Frieden zu dienen. Mitmenschlichkeit unterstreiche die Natur des Menschen, der als Wesen der Sprache nicht allein existieren könne, sondern auf Seinesgleichen angewiesen sei. Wer Mensch sagt, müsse immer zugleich die menschliche Gemeinschaft mitdenken. Gemeinsinn sei Mitmenschlichkeit auf überindividueller Ebene zur Schaffung hilfreicher gesellschaftlicher Strukturen und zum Erhalt einer lebenswerten Umwelt für künftige Generationen. Sodann setzte ich mich mit folgenden Einwänden auseinander:

1. Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn gehören in die Gesellschaft und nicht in die Verfassung.

Meine Antwort: Die Verfassung sei selbst wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Gerade weil Letztere grundlegend auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn angewiesen sei, habe sich das Bundesverfassungsgericht schon 1954 genötigt gesehen, der fehlenden Erwähnung dieses Aspekts durch eine eigene Rechtssprechung zum Menschenbild des Grundgesetzes abzuhelfen.

2. Wenn diese Begriffe unbedingt in die Verfassung gehören würden, wären sie bereits von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes aufgenommen worden.

Hierzu präzisierte ich den Gedanken diesbezüglicher Blindheit wegen allzu großer Selbstverständlichkeit von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in der Nachkriegszeit. Die aufgrund der schlimmen NS-Erfahrung damals stark gemachten Abwehrrechte würden heutzutage zu dem Missverständnis führen, als sei von Verfassungs wegen dem Individualismus Priorität eingeräumt. Dies führe zu der beklagten Atomisierung unserer Gesellschaft und zum „Wärmetod der Zwischenmenschlichkeit“ (Dürr).

3. Es sei unnötig, diese Begriffe aufzunehmen, da sie in der Menschenwürde bereits enthalten sind.

Ich gab zu bedenken, dass auch die anderen Zentralbegriffe Freiheit und Gleichheit darin enthalten sind und diese dennoch im Grundgesetz weiter entfaltet werden. Da dies bei dem der Brüderlichkeit entsprechendem Begriff jedoch nicht der Fall sei, entstehe ein kodifikatorisches Ungleichgewicht, das allein durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend ausgeglichen würde.

4. Es handle sich um nicht-justiziable Verfassungslyrik.

Diesem am häufigsten zu hörenden Einwand begegnete ich mit dem Hinweis, dass jede Verfassung sich immer auch im Vorfeld des Rechts bewege. Sie sei ein Gesellschaftsvertrag, zu dem Grundwerte gehörten. Auch die Menschenwürde sei erst durch beständiges Bemühen des Bundesverfassungsgerichts in ihren justiziablen Bezügen entfaltet worden.

5. Die Aufnahme dieser Begriffe ins Grundgesetz würde nichts bewirken.

Dagegen spricht, dass jeder neue Verfassungsbegriff, insbesondere ein Wertbegriff, bei Güterabwägungen zukünftiger Verfassungsauslegung eine Rolle spielen kann. Es kommt durch die beiden Begriffe eine andere Akzentuierung in die Verfassung, die ihre Wirkung zeitigen wird.

Zusammenfassend wies ich darauf hin, dass die Aufnahme dieses aus Ostdeutschland kommenden Anliegens geeignet sei, uns verstärkt mit der gesamtdeutschen Verfassung zu identifizieren. Mitmenschlichkeit sei eine aus der Natur des Menschen sich ergebende Verpflichtung, eine Art „Lockruf zum Leben“[44]. Gemeinsinn wiederum sei Mitmenschlichkeit auf überindividueller Ebene, der Gestaltungswille zur Schaffung einer für die Entwicklung von Mitmenschlichkeit hilfreichen gesellschaftlichen Struktur. Intendiert sei ein Wertewandel im Sinne Erich Fromms, weg von einer Kultur des Habens und Immer-mehr-haben-Müssens, hin zum Sein, zum Mitsein mit jedem Wesen, insbesondere mit dem, welches ein menschliches Antlitz trägt.

Rahardt-Vahldieck führte aus: Sie als Juristin habe sich an den Vorschlag erst gewöhnen müssen. Sie unterstütze ihn aber jetzt voll und ganz, denn es fehle in unserer Verfassung der „letzte Teil der Trinität, die Brüderlichkeit“, während Freiheit und Gleichheit von bloßen Abwehrrechten sogar zu staatlichen Schutzpflichten weiterentwickelt wurden. Mit der Aufnahme von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn würde ein Signal gesetzt, dass wir das Grundgesetz auch als ein Grundgesetz für die Schwächeren in unserer Gesellschaft verstehen.[45]

Mit Nachdruck verwendete sich Helmrich für unseren Vorschlag und beklagte den „überbordenden Individualismus“ [46] unserer derzeitigen Rechtssprechung, dem auf diese Weise etwas entgegengesetzt werden könne.

Als Hauptgegner äußerte sich der Sächsische Justizminister Heitmann (CDU): „Unsere Verfassung ist nicht die Bibel, und der Staat ist nicht der liebe Gott. Durch Verfassungssentimentalitäten jedenfalls wird der Mensch nicht besser, aber das Grundgesetz schlechter, und zwar auch aus ostdeutscher Sicht… Der edle Klang der beiden Begriffe und unsere Sehnsucht nach ihrer Realität im gesellschaftlichen Miteinander darf nicht über ihre Inhaltsleere im Rahmen der Verfassung hinwegtäuschen.“[47]

Ähnlich votierte Hirsch: „Man darf nicht vergessen, dass das Grundgesetz trotz allem immer noch ein Gesetz ist und wir uns deshalb solcher Begriffe bedienen müssen, die eine rechtliche Qualität haben.“[48]

Nachdem Barbe (SPD), die zur Wendezeit mit anderen und mir einst die SDP[49] gründete, sich energisch gegen das Heitmannsche Votum gewandt hatte, wurde über unseren Antrag abgestimmt: Mit 36 Ja-Stimmen, 21 Nein-Stimmen und 2 Enthaltungen hatten wir zwar die Mehrheit, aber nicht die nötige 2/3-Mehrheit auf unserer Seite. Scholz und Voscherau bemühten sich, die Angelegenheit mit freundlichen Worten ad acta zu legen: „Herr Elmer ist mit Sicherheit in die deutsche Verfassungsgeschichte eingegangen.“[50] So schnell freilich wollte ich nicht aufgeben.

Drei Tage später bescheinigte mir der Tagesspiegel „Hartnäckiges Eintreten für Mitmenschlichkeit im Verfassungsrang“[51] und vermutete, dass im Parlament und in der Länderkammer der Antrag durchaus mehr Chancen haben könnte, als so mancher Antrag, der in der GVK die Zweidrittelmehrheit erlangte. Vor allem schrieb der bei Konservativen hochgeschätzte Bonner Staatsrechtler Isensee seinem Berufskollegen Scholz ins Stammbuch: „Von all den zahlreichen Änderungsanträgen, die gescheitert sind, ist es um einen schade, einen neuen Art. 2a GG, der Unterstützung quer durch alle Fraktionen erfahren hat: ‚Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen’… Daraus ergäbe sich ein verfassungspädagogisches Signal, das, auch wenn die liberalen Grundrechte von Haus aus ‚Versicherungen des Egoismus’ (Karl Marx) sind, ihre Ausübung sich nicht in Anspruchsegozentrik erschöpfen darf. Der Vorschlag nennt eine mit staatlichem Befehl und Zwang nicht erzwingbare Verfassungsvoraussetzung, aus der die Grundrechtsdemokratie lebt.“[52]

Noch heute klingen mir die Worte des CDU/CSU-Obmanns Jahn im Ohr: „Herr Elmer, dass sich der Isensee auf ihre Seite stellt, das macht uns schon zu schaffen.“ Leider hatte sich Isensee erst spät in dieser Weise geäußert[53] und nach Auskunft von Rahardt-Vahldieck in früheren Vorbereitungssitzungen der CDU/CSU-Verfassungsgruppe unserem Vorschlag gegenüber zurückhaltend votiert.

Ich verabredete mit ihm ein Treffen in seinem Institut, zu dem außer Rahardt-Vahldieck auch der uns zugeneigte ostdeutsche Prof. Schnittler (FDP) eingeladen wurde. Damals riet uns Isensee, jeden Anschein einer zusätzlichen Einschränkung der Freiheitsrechte zu vermeiden. Später habe ich ihm meine Antragsbegründung zugesandt, zu der er hilfreiche Änderungsvorschläge unterbreitete.

Bis zur bevorstehenden Parlamentsdebatte war bei den eigenen Fraktionsmitgliedern Überzeugungsarbeit zu leisten. Auf dem SPD-Parteitag[54] gelang es Vogel, den Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn als offiziellen SPD-Verfassungsreformvor-schlag absegnen zu lassen. Auch galt es, weitere Mitstreiter in den anderen Fraktionen zu gewinnen, die den Antrag als Miteinbringende unterschreiben würden. Außer Rahardt-Vahldieck hatte ich Schnittler als Haupteinbringer gewonnen, damit schon im Antragskopf nicht nur eine große Koalition, sondern die generelle Überparteilichkeit unseres Anliegens zum Ausdruck kommt.

Schwieriger war es, an die FDP-Leitfigur heranzukommen. FDP-Abgeordnete erklärten mir, dass der liberale Genscher das niemals unterschreiben würde. Daraufhin habe ich mir zusichern lassen, dass, wenn er mir den Antrag unterschreibt, auch sie dabei sein werden. Als ich nach längerem Warten einen Gesprächstermin bei Genscher bekam und ihm von meiner Hallenser Studentenzeit erzählte, sprach er kurz entschlossen: „Na, dann mal her damit“, und unterschrieb. Nun war auch bei den Liberalen der Bann gebrochen und die Mehrheit bald auf unserem Antrag zu finden.

Tag für Tag ging ich im Plenum quer durch alle Fraktionen und warb um eines jeden Unterschrift. Das führte dazu, dass manche, die schon unterschrieben hatten, mir freundlich zulächelten, während andere mir aus dem Weg gingen. Als ich CDU/CSU-Vorstandsmitglied Hintze zum wiederholten Mal befragte, schimpfte er mich einen ‚Terroristen der Mitmenschlichkeit’. Auf der anderen Seite schauten einige SPD-Kolleginnen scheel, weil ich so oft in den Bankreihen der ungeliebten CDU/CSU-Fraktion zu sehen war.

Erst als ich auf diese Weise in wenigen Wochen die Mehrheit der Abgeordneten per Unterschrift für unseren Antrag gewonnen hatte, erkannte auch die eigene Fraktionsführung den Ernst der Sache[55], und ein Mitarbeiter wurde beauftragt, mir bei den Einbringungsformalitäten zu helfen.

Am 31.1.1994 erreichte unser Antrag unter Drucksache 12/6708 die parlamentarische Öffentlichkeit, und am 2. Februar konnten wir in einer Presseerklärung bekannt geben, dass 345 Abgeordnete, also die Mehrheit aller Fraktionen und Gruppierungen des Bundestages, den neuen Artikel 2a als Miteinbringer unterstützen.[56] Inzwischen hatten selbst Kollegen unterschrieben, die in der Verfassungskommission noch dagegen stimmten.

Helmut Kohl habe ich in der Cafeteria des Bundestages unseren Antrag mit kurzen Worten überreicht, ebenso Schäuble, der auf Anfrage seiner eigenen Leute, ob sie unterschreiben dürften, immerhin die Parole herausgab: “Ich bin zwar nicht dafür, aber es wird auch nicht schaden.“ Im Gespräch mit mir am Rande einer Parlamentsdebatte meinte er: „Ja, ihr braucht das wohl.“ Beide überließen jedoch Scholz das Feld und mögen bei sich gedacht haben: Jede Verfassungsergänzung schränkt die Handlungsfreiheit der Regierenden ein, und niemand weiß, was die Gerichte daraus ableiten werden. Warum sollen wir uns das antun? Mit anderen Worten, hier war die Verfassungsgebung allein in die Hände der Parteien, insbesondere der konservativen Mehrheit gelegt, die jede Veränderung blockieren konnte.

Um zu verhindern, dass in dieser Weise der Bock zum Gärtner wurde, hätten wir Volkskammerabgeordneten dem Einigungsvertrag nur zustimmen dürfen, sofern in ihm die Einsetzung ei