Konrad Elmer-Herzig Texte und Reden von Konrad Elmer-Herzig

10. Januar 2011

Brief an Bundeskanzlerin Merkel

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Konrad Elmer-Herzig (ehem. MdB Konrad Elmer) Nansenstr. 6
14471 Potsdam
Tel.: 0331 / 95 12 904
Fax.: 0331 / 95 12 903
Email: elmer-herzig@gmx.de
Dr. Konrad Elmer-Herzig • Nansenstr. 6 • 14471 Potsdam
An die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik  Deutschland
Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
10178 Berlin
Potsdam, den 9. 11. 2009
Betrifft: Verfassungsergänzung
Bezug: mein Brief vom 1.10. 2006 u. Ihre Antwort AZ 132-K-012314/06/0001 von Katja Neumann
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
endlich ist der Lissabonvertrag unter Dach und Fach und damit auch jener Satz in der Präambel zur Grundrechtecharta:

„Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmen-schen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft … verbunden.“

Wäre es da nicht ein Leichtes, diesen Gedanken nun auch in unser Grundgesetzt einzufügen in Gestalt jener schönen Wendung Ihres früheren Kollegen Horst Eylmann von 1994:

„….auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend, …..hat sich das Dt. Volk….dieses Grundgesetz gegeben.“?

Dies wäre ein starkes Signal, wie ernst wir europäische Verfassungstexte nehmen, und zugleich eine späte Würdigung ostdeutscher Bemühungen zur Verfassungsdiskussion im Anschluss an unsere Friedlichen Revolution.
Mit freundlichen Grüßen
Konrad Elmer-Herzig

5. November 2009

4 Thesen zur Erinnerung an den 4. 11. 1989

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1. Es ist nicht gelungen, den Wunder-bewirkenden Geist der friedlichen Revolution des Herbstes 89, den Geist der freien politischen Betätigung der Bürgerinnen und Bürger („Wir sind das Volk“) auf Dauer wirksam werden zu lassen.

2. Dazu hätten wir den Runden Tischen eine von unten (Wohnbezirk) nach oben (Stadt, Region, Land, Bund) repräsentative Struktur durch gewählte Delegierte für die jeweils nächsthöhere Ebene geben müssen. Nur so hätten die Runden Tische dem Entmachtungsargument der Parteien begegnen können: „Ihr seid ja gar nicht repräsentativ, nicht demokratisch legitimiert, wie wir, die wir aus den ersten freien Wahlen hervorgegangenen sind“.

3. Inzwischen merken immer mehr Menschen, vor allem auch die, welche in den Parteien tätig sind, dass die Parteiendemokratie, wegen der innerparteilichen Hierarchie, der Würde eines freien Bürgers abträglich ist. Er muss nämlich, will er in diesen Strukturen erfolgreich sein, sich den Oberen andienen. Und wenn er selber Oben ist und noch einen Funken Würdebewusstsein besitzt, wird ihn das Andienen der unteren Ränge anwidern. Es gibt in diesen Strukturen keine wirkliche Freiheit. Freiheit benötigt den relativ herrschaftsfreien Raum eines runden Tisches, an dem ein seiner Würde bewusster Mensch als Gleicher unter Gleichen das Wort ergreifen kann.

4. Das während der friedlichen Revolution Versäumte lässt sich nachholen. Jeder könnte jederzeit in seinem Wohnbezirk mit einem Runden Tisch freier politischer Kommunikation beginnen, um diesen später mit entsprechenden Tischen in benachbarten Wohnbezirken zu vernetzen, um mit den gewählten Delegierten Runde Tische höherer Ebene zu bilden. Dann wird sich zeigen, dass diese Art der politischen Legitimation gegenüber der der Parteiendemokratie sich auf Dauer als die wahrhaftige erweist.

Potsdam, am Reformationstag 2009

„Sie werden kommen von Osten und Westen,
von Norden und Süden und zu Tisch sitzen
im Reich Gottes.“ Lk 13,29

„…wie im Himmel, so auf Erden“ Mt 6,10

28. Oktober 2009

Gegendarstellung zu Erhart Neubert

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Konrad Elmer-Herzig
Gegendarstellung zu Erhart Neuberts

Interpretation der Vorgänge um den Friedenskreis der ESG-Berlin(Ost)

In seinem Buch: „Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989„, Berlin 1997, S. 466 schreibt Erhart Neubert:

„Der neue Studentenpfarrer Konrad Elmer … kooperierte mit der Kirchenleitung bei der Entfernung des Friedenskreises und des aus ihm hervorgegangenen Umweltkreises aus der ESG. Nach langen Bemühungen kam der recht- und heimatlose Friedenskreis 1984, inzwischen erheblich geschwächt, in der Friedrichsfelder Kirchengemeinde unter.“

Dazu ist zu sagen:
Bei meinem Dienstantritt 1982 bestand der Friedenskreis nahezu ausschließlich aus Nichtstudenten. Die über Jahre gewachsene Geschlossenheit des Kreises erschwerte die Versuche von Studierenden, hier mitzuarbeiten. Dies scheiterte in der Regel nach wenigen Besuchen. Nach außen dominierte der Kreis das Erscheinungsbild der Berliner Studentengemeinde, sodass der Eindruck entstand, der Friedenskreis sei im Wesentlichen die Berliner ESG. Sein Anspruch auf Selbständigkeit in der Arbeit führte dazu, dass er sich nur unzureichend mit dem Leitungskreis und den Vertrauensstudenten abstimmte und faktisch auf Autonomie bestand. So kam es zu zahlreichen Differenzen z.B. hinsichtlich der Durchführung von Veranstaltungen.
Berliner Studenten, die stärker politisch eingebunden leben mussten, trauten sich wegen des die Außensicht prägenden Friedenskreises nicht mehr, in ihre Studentengemeinde zu kommen. Dieses war der ausschlaggebende Grund, warum im Frühjahr 1983 der Leitungskreis eine Trennung des nichtstudentischen Friedenskreises von der ESG anregte. Das Anliegen wurde der Kirchenleitung vorgetragen und mit Vertretern des Friedenskreises in mehreren Gesprächen erörtert. Der Friedenskreis lehnte die zunächst vorgesehene Anbindung an die Absolventenarbeit von Pfarrer Berger ab.
Am 12. 9.1983 stellte das Konsistorium fest: „Auf Grund seiner Zusammensetzung kann der  Friedenskreis nicht mehr Gemeindekreis der ESG sein“. Zugleich wurden vom Konsistorium Bemühungen zugesagt, für den Kreis eine neue Anbindung zu finden. Es war dafür eine Frist bis zum 31.10.’83 gesetzt. Verhandelt wurde vom Friedenskreis und Vertretern der Kirchenleitung zunächst längere Zeit mit der Eliasgemeinde. Der Friedenskreis war jedoch auch nach dem 31.10.’83 nicht heimatlos. Auf ausdrückliche Bitte der Kirchenleitung standen die Räume der ESG dem Kreis bis zum 29. 2.1984 zur Verfügung. Zu diesem Zeitpunkt war die Anbindung an die Kirchengemeinde Friedrichsfelde vollzogen.
Der Friedenskreis war zu keinem Zeitpunkt rechtlos. Im Beschluss des Konsistoriums vom 12.9.83 war ausdrücklich festgestellt worden: „Der Friedenskreis ist ein kirchlicher Kreis und hat als solcher seinen Platz in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg.“ In diesem Sinn ist seine Arbeit stets von Kirchenleitung und Konsistorium gegenüber den staatlichen Stellen vertreten worden, wie die damaligen Gesprächsprotokolle ausweisen.

Innerparteiliche Rätedemokratie

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Konrad Elmer
Innerparteiliche Rätedemokratie – Zwischen Basis-Ideologie und Kanzlerwahlverein*
– Unerledigte Anfragen aus dem Statut der SDP –

Die Mitwirkung in einer Partei verliert an Popularität. Basisdemokratisch orientierte Bürgerbewegungen leiden an fehlender Entscheidungskraft und politisch Durchsetzungsfähigkeit
Der Bundestagsabgeordnete Dr. Konrad Elmer schlägt eine Strukturveränderung innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vor, die ihm schon bei der Arbeit am Statut zur Gründung der SDP vor Augen stand: Die Gliederung in gesprächsfähige Gruppen auf allen Ebenen. ein „Rätesystem“, das alle zu Wort kommen läßt ohne die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu verlieren, so daß durch größere Transparenz und Realitätsnähe die älteste Partei Deutschlands, neue Anziehungskraft gewinnt.

I.
Als ich im September 1989 zusammen mit Klaus-Dieter Kaiser. dem Generalsekretär der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR, den in Schwante zu beschließenden Strukturaufbau der SDP konzipierte, entstand folgendes Modell:
– Verbindliche, wohnsitzorientierte Basisgruppen mit etwa 15 Mitgliedern;
– Delegierung zweier Vertreter, möglichst einer Frau und eines Mannes, zur
nächsthöheren Gruppe. die dann etwa 14 Personen umfaßt. Diese Gruppe delegiert
wiederum zwei Vertreter zur nächsten Leitungsebene und so fort.
– Daraus ergeben sich die Orts-. Kreis-. Bezirks- und (je nach Mitgliederzahl
notwendigen) Zwischenebenen.
– Auf DDR-Ebene entsteht der Landesparteitat mit 30 Mitgliedern.
– Die aus diesen Delegierten sich zusammensetzenden Leitungsgremien werden auf den jeweiligen Parteitagen durch weitere Kandidaten entsprechend der unterschiedlichen Mitgliederzahlen der Regionen und Gruppen ergänzt und gemeinsam zur Wahl gestellt. Dabei muß im neugewählten Rat aus jeder delegierenden Gruppe wenigstens ein Delegierter vertreten sein. Gewählt sind dann also der/die Kandidatin einer jeden delegierenden Gruppe der/die die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, sowie, unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit, die weiteren Kandidaten mit den meisten Stimmen bis zur vom Parteitag bestimmten Vollzähligkeit der Leitungsgruppe.
– Hat jemand ein Parteiamt 8 Jahre lang inne, kann er nur noch mit Zwei-Drittel-Mehrheit für dieses Amt wiedergewählt werden.
– Bei Übernahme eines Mandates oder Saatsamtes sind alle Parteifunktion niederzu-legen, und es ruht das passive Wahlrecht. …
– Alle Delegiertensitzungen und Parteitage sind so aufzuzeichnen, daß jedes Parteimitglied
den Verlauf der Diskussion verfolgen kann…
– Jeder Delegierte ist jederzeit, wenn es die ihn delegierende Gruppe wünscht, zur
Rechenschaft verpflichtet.1
Was waren unsere damaligen Leitmotive? Wir wollten keine Partei im üblichen Sinn, nicht den Kanzlerwahlverein des Westens und schon gar nicht den Parteizentralismus des Ostens. Auch stand uns keine diffuse, undifferenzierte revolutionäre Volksbewegung vor Augen. Vielmehr wollten wir den Rätegedanken Rosa Luxemburgs2 für die Strukturen einer modernen sozialdemokratischen Partei fruchtbar machen.3

II.

Die Dynamik der Einheit hat unsere Ansätze in den Hintergrund treten lassen. Die Probleme sind geblieben: Bürgerbewegungen agieren auf der politischen Bühne, um die Parteiendemokratie durch bessere Strukturen abzulösen: Alle sollen an allem partizipieren. Alles soll an der Basis und von ihr entschieden werden. Strukturen repräsentativer Demokratie sind, wo irgend möglich, durch basisdemokratische Entscheidungsfindung zu ersetzen. Je mehr jedoch alle über alles entscheiden sollen, desto weniger, so scheint es, kann von dieser Bewegung entschieden werden. Warum ist es derzeit so schwer, Menschen Für die Mitarbeit in einer Partei zu gewinnen? Abgesehen von alldem, was mit diesem Wort in der DDR-Vergangenheit an Negativem verbunden war, auch in der alten Bundesrepublik sind Parteien nicht gerade populär. Da assoziieren die Bürgerinnen und Bürger: Parteidisziplin, opportunistisches Karrieredenken, Filz und Schlimmeres. Partei, das erscheint vielen bestenfalls als ein notwendiges Übel. Und dabei geht es mit Hilfe der Parteien um die Gestaltung zentraler Bereiche menschlichen Zusammenlebens, woran mitzuwirken eines jeden Menschen Interesse sein müßte.4 Kaum 5 Prozent der Bevölkerung sind heute parteilich organisiert, und selbst aktive Parteimitglieder gewinnen den Eindruck, an den wirklich wichtigen Entscheidungen nicht beteiligt zu sein.
Die Frage lautet: Wie sind die Vorteile von Partei und Bürgerbewegung für eine neue Parteistruktur zu verbinden und die Nachteile beider zu vermeiden? Entscheidender Ansatzpunkt meiner Überlegungen war und ist das Insistieren auf einer freien, qualifizierten Willensbildung in den konkreten Gruppen vor Ort. Wir Menschen, als durch Kommunikation konstituierte Wesen, wissen nicht, in welcher Welt wir leben und was wir wollen, bevor wir uns mit anderen darüber verständigt haben. Es gibt nicht „die Welt an sich“, in die wir hineingestellt sind, sondern die Welt gestaltet sich für uns erst im Vollzug von Kommunikation (Hannah Arendt). Entscheidend ist für jeden, der an der politischen Willensbildung teilnehmen will, daß er einen konkreten Raum findet, in dem er mit anderen in eine gleichberechtigte Kommunikation eintreten kann. Dies setzt eine Gruppenstruktur voraus, in der jeder ausreichend zu Wort kommt. Alles hängt daran, ob die Parteistruktur ihren Ausgang von solchen gesprächsfähigen Gruppen nimmt, in denen auf Argumente eingegangen wird und sich nicht nur ein Statement an das andere reiht.5

III.
Das eigentliche Übel unserer bisherigen Parteistruktur sind die viel zu großen Ortsvereine, in denen die Dauerredner und die Prominenz das Feld beherrschen. Sie hoffen dort nicht eigentlich auf neue Erkenntnisse, sondern mühen sich, den anderen ihre Erkenntnisse nahezubringen. Das heißt, der Bewußtseinsbildungsprozeß läuft schon auf der untersten Ebene meistens von oben nach unten. Nur in Ausnahmefällen wird diese Struktur durchbrochen. um den einen oder anderen Repräsentanten von seinen Höhenflügen auf den Boden der Realität zu holen, ohne daß man freilich Gelegenheit hatte, sich in dieser ‚Gruppe über das, was die Realität ist, zu verständigen. Wie sich unsere Partei durch diese Struktur um die Mitarbeit vieler ihrer Mitglieder bringt, zeigt sich an folgender Beobachtung: Ob ein Ortsverein 50 oder 500 Mitglieder hat, in den normalen Sitzungen sind in beiden Fällen annähernd gleich viele Mitglieder ver-treten, nämlich selten mehr als 20 bis 30. Ich behaupte nun, das liegt schlichtweg daran, daß mehr nicht ernsthaft zu Wort kommen können, und daß den übrigen die Sache deshalb irgendwann einmal nichts mehr gegeben hat. Würde man den Ortsverein mit 500 Mitgliedern in 10 Basisgruppen untergliedern, so könnten sich zehnmal so viele Mitglieder an der Diskussion beteiligen und entsprechend aktiv mitarbeiten. In diese gesprächsfähigen Basisgruppen würden auch sehr viel leichter SPD-Sympathisanten integriert werden und Freude an der Mitarbeit gewinnen.6
Natürlich wird es immer auch „bloß zahlende Mitglieder geben, die sich überhaupt nicht sehen lassen. Aber lieber die Gruppen etwas kleiner als zu groß. Lieber bloß zehn als dreißig Gesprächsteilnehmer. Spätestens bei 50 Mitgliedern, so sollte es im Statut festgeschrieben werden, hat sich die Gruppe mit ihrem Einzugsgebiet zu teilen.
Wenn die Partei in ihrer jetzigen Struktur mit den großen Ortsvereinen überhaupt funktioniert, dann nur deshalb, weil es unterhalb der Ortsvereine immer noch die eine oder andere informelle Gruppe gibt, in der echte Gespräche stattfinden. Die eigentliche Kommunikation aber dürfen wir nicht den informellen Gruppen, also dem Zufall, überlassen. Es birgt die Gefahr, daß solche Gruppen nun wiederum zu klein, zu privat und also zu sehr Klüngelrunden werden, in denen partikulare und private Interessen die Oberhand gewinnen. Drei, vier Gruppenmitglieder können sich zu rasch einigen, um dann die anderen im Ortsverein nur noch ins Schlepptau zu nehmen. In den informellen Gruppen finden sich die Gleichgesinnten, während es wichtiger wäre, schon auf der untersten Ebene die unterschiedlichsten Weltsichten miteinander ins Gespräch zu bringen. Darum gilt das Wohnortprinzip: Nicht die, die sich sympathisch sind, sollen sich zusammenfinden, sondern die, welche einen ähnlichen Lebensraum bewohnen. Sie verständigen sich gemeinsam über das, was es zu gestalten gibt. Wohnsitzorientierte, gesprächsfähige Basisgruppen, Abteilungen, Ortsvereine, oder wie man die ersten Gruppen vor Ort sonst noch nennen mag, sind der Ausgangspunkt einer sinnvollen Parteistruktur.

IV.
Ich verwende den Begriff .Basisgruppe als Bezeichnung einer ersten Struktureinheit und nicht im Sinne der sogenannten „Basisdemokratie“. Bei der reinen Basisdemokratie wird durch die nicht mehr gesprächsfähige Vollversammlung der Einzelne schon wieder übergangen. Der Ausdruck Basisdemokratie hat etwas ideologisches,  denn  „Basis“  ist  ein  viel  zu  verschwommener  Begriff ,  ebenso  wie z.B. der Ausdruck „das Volk“.  Beides suggeriert eine besondere Nähe zur Wirklichkeit, obwohl niemand sagen kann, wer „die Basis“ ist. Denn weder spricht die Basis als solche noch das Volk, sondern es sprechen immer nur einzelne ohne Legitimationsstruktur „für“ die Basis und „für“ das Volk. Selbst wenn das Volk im ganzen zusammenkäme, so sind es doch immer nur einige wenige, welche am Mikrophon die Fragen stellen oder die Antworten geben, zu denen applaudiert oder gepfiffen wird. Und woher weiß „das Volk“, ob ihm nicht die wesentlichen, die sinnvolleren Alternativen vorenthalten werden? In fast allen Fällen gibt es auf diesen Massenveranstaltungen nichts mehr zu  entscheiden, sondern höchstens vorher längst Entschiedenes abzusegnen. Das eigentliche Problem besteht also darin, wie die Vermittlung funktioniert, und zwar nicht zwischen einer diffusen Basis und einem anonymen Überbau,  sondern  konkret zwischen allen, die an den politischen Entscheidungen mitwirken wollen.  Wie kann organisiert werden, daß jeder mit seinen Argumenten wirklich gehört wird und daß diese, obwohl es tausend verschiedene sein können, gleichberechtigt einfließen in eine Gesamtentscheidung? Ob „oben“ oder „unten“ entschieden werden soll, ist eine gleichfalls ideologische Alternative. Entscheidend ist die Frage der Vermittlung, der Organisation des reibungslosen Hin und Her von unten nach oben und umgekehrt. Denn „die da oben“ sind auf ihre Weise genauso Basis wie „die da unten“ oder auch „die im Mittelbau“.
Wie soll die in den wohnsitzorientierten Basisgruppen gewonnene  Willensbildung zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden? Üblicherweise gibt es dafür bei den Befürwortern der reinen Basisdemokratie die Vollversammlungen. Doch sofort tritt wieder jenes Problem auf, daß hier allein die Rhetoriker dominieren und es nicht zu einem allumfassenden Austausch und ruhigen Abwägen der Argumente aus den verschiedenen Lebensperspektiven kommt. Das pragmatische Modell der Parteien ist ein handlungsfähiger, auf Kreisparteitagen zu wäh-lender Kreisvorstand. Da es bei einem solchen Vorstand, vor allem beim geschäftsführenden, in dem die eigentlichen Entscheidungen fallen, weniger um eine gleichberechtigte Zusammenfassung aller Gruppen, sondern vielmehr darum geht, möglichst schnell Entscheidungen herbeizuführen, können nicht alle Basisgruppen vertreten sein. Also geschieht auch hier wieder Willensbildung von oben nach unten – eben ein Vorstand, der vor den Basisgruppen steht. Gefragt sind Entschlußkraft und Durchsetzungsvermögen und weniger die Fähigkeit., Meinungen anderer zusammenzufassen und in ihrer eigenen Intention weiterzutragen. Darum empfehle ich anstelle des Kreisvorstandes einen Kreisparteirat als erste zusammenfassende Ebene der innerparteilichen Rätedemokratie. In ihm sollen alle Basisgruppen mit 2 Delegierten vertreten sein. Zwei, nicht nur deshalb, damit im Falle der Verhinderung wenigstens einer aus  jeder Gruppe anwesend  ist, sondern sowohl, um sich in der Darstellung des Willens der Basisgruppe gegenseitig zu ergänzen und zu kontrollieren, als auch, um eine Frau und einen Mann delegieren zu können, die ihre je spezifischen Betrachtungsweisen einbringen. Auch der Parteirat muß von der Zahl seiner Mitglieder her gesprächsfähig bleiben. Das heißt, er sollte nicht mehr als 10 Basisgruppen zusammenfassen. Darum sind, wenn nötig, als Zwischenebene Orts- bzw. Wohnbezirks-Parteiräte zu bilden. Die gleiche Leitungsstruktur wiederholt sich auf Landes- und auf Bundesebene, indem jeder Kreisparteirat aus seiner Mitte zwei Delegierte für den Landesparteirat wählt usw. usf.
Die Delegierten der höheren Ebene sind der niedrigeren zur Rechenschaft verpflichtet. Wesentliches Moment der politischen Struktur muß die Verantwortbarkeit dessen sein, was wir vertreten. Es genügt nicht, daß jemand sagt: „Ich habe nach meinem Gewissen entschieden“, sondern er muß in der Lage sein, diese Gewissensentscheidung kommunikabel werden zu lassen. Ist ein Delegierter dazu nicht in der Lage, oder kann er die Gründe nicht so einsichtig machen, daß er die Zustimmung der Mehrheit seiner Gruppe findet, so wird er zwar nicht sofort,  jedoch bei der nächsten Delegiertenwahl durch einen anderen ersetzt.
Warum nicht sofort? Hier grenze ich mich noch einmal ab von der reinen Basisdemokratie mit ihrem imperativen Mandat. Eine sachgemäße politische Willensbildung ist nicht einfach die Summe der Egoismen der Einzelnen. Von den persönlichen Interessen ausgehend muß nämlich der Wille zur Verantwortung des Ganzen immer erst geformt werden. Deswegen mein Insistieren auf der Gesprächsfähigkeit der Gruppen, damit der Einzelne die Gelegenheit hat, im Gespräch mit anderen über seinen Egoismus hinauszuwachsen. Gleiches hat auch für den Gesamtwillen der Basisgruppen, ihre Gruppenegoismen, zu gelten. Deshalb müssen sie ihren Delegierten ein-räumen, auf der nächsthöheren Ebene durch die Argumente der Vertreter anderer Basisgruppen zu noch besserer Einsicht zu gelangen, als dies in der eigenen Gruppe möglich war. Kennzeichen eines guten Delegierten ist also nicht, daß er den politischen Willen seiner Gruppe auf Biegen und Brechen auf der nächsthöheren Ebene durchsetzt. Natürlich soll er dafür mit guten Argumenten eintreten. Aber wirklich fähig ist er nur, wenn er die evtl. bessere Einsicht, die er aus dem Gespräch mit den Delegierten der anderen Gruppen gewonnen hat, vor seiner eigenen Gruppe so verantworten kann, daß dieser eine Zustimmung zu den neuen Ergebnissen möglich wird. Die Änderung der Meinung einer Basisgruppe braucht Zeit. Würde die Vertrauensfrage gegenüber dem Delegierten bei jeder seiner abweichenden Abstimmungen im Kreisparteirat oder auf höherer Ebene sofort gestellt, hätte der Delegierte keine ernsthafte Möglichkeit, seine abweichende Haltung  verständlich zu machen, und die Gruppe nähme sich die Möglichkeit, in eine neue Erkenntnis hineinzuwachsen.

V.
Natürlich dürfen Diskussion und Vermittlung nicht endlos dauern. Irgendwann muß eine verbindliche Entscheidung fallen. Vor einer endgültigen Entscheidung sollte jedes Problem auf allen Ebenen, die dies wünschen, diskutiert werden. Da-nach soll entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip auf möglichst niedriger Ebene, auf der das Problem sinnvoll entscheidbar ist, endgültig entschieden werden. Wollen mehrere Ebenen das Problem endgültig entscheiden, und kann trotz nochmaliger Abwägung der Argumente keine Einigung erzielt werden, entscheidet der Parteitag der höheren Ebene. Jede Entscheidung muß korrigierbar sein, sobald neue Argumente auftauchen. Weiterhin ist zu überlegen, wie bei Entscheidungen nicht nur der demokratische Weg, sondern auch die Einbeziehung spezieller Sachkompetenz abzusichern ist. Über den sachgemäßen Ort der Entscheidung sollte kein Beschluss gefasst werden, ohne daß die entsprechenden Arbeitsgruppen sowie unabhängige Sachverständige gehört wurden.

Vl.
Ein wesentlicher Vorteil der Rätestruktur besteht darin, daß es sehr konkrete Zuordnungen der Delegierten gibt, die von ihnen beachtet und gepflegt werden müssen, um wiedergewählt zu werden. Umgekehrt wird die Basisgruppe mit den wirklich relevanten Themen beschäftigt, die sie selber einbringen oder die der Delegierte mitbringt. So wie der oder die Bundestagsabgeordnete seinem/ihrem Wahlkreis zugeordnet ist, wird auch in der Parteistruktur der Delegierte aufs Engste mit der ihn delegierenden Ebene und seiner Basisgruppe verbunden sein. Die Versamm-ungen der Basisgruppen wären dann von ganz anderer Brisanz als heute, weil die Mitglieder im gesamten Meinungsbildungsprozeß der Partei Wesentliches mitzuentscheiden haben.7
Eine Gefahr bei den Parteiräten könnte darin liegen, daß die dort versammelten Delegierten sich auf Dauer „zu gut“ verstehen. Das könnte, trotz Rückbindung an die Basisgruppen, manipulative Wirkungen mit sich bringen. Darum erscheint es sinnvoll, die Vorsitzenden der Räte zwar aus diesen Gruppen vorschlagen zu lassen, sie dann aber zusammen mit weiteren Gegenkandidaten auf einer Vollversammlung bzw. einem Parteitag der entsprechen den Ebene zur Wahl zu stellen. Außerdem ist zu überlegen, ob auf den höheren Ebenen eine Art „Mischsystem“ sinnvoll wäre, bei dem zu den in die Räte entsandten Delegierten weitere Personen auf dem Parteitag hinzugewählt werden.8 Dadurch Hätten fähige Leute, die durch unglückliche Konstellationen in ihrer eigenen Basisgruppe oder auf höheren Ebenen nicht zum Zuge kamen, noch einmal eine Chance. Es ist z.B. möglich, daß in einer Basisgruppe besonders viele gute Leute beheimatet sind, diese aber, weil nur zwei Delegierte zu wählen sind, gar nicht alle eine Chance bekommen können. Es wäre jedoch zugleich zu überlegen, ob die so Hinzugewählten nicht doch noch einmal der Bestätigung durch die Gruppe bzw. Ebene bedürfen, in der sie beheimatet sind, damit nicht ausgesprochen unliebsame Leute, die eine Gruppe ausdrücklich nicht wählen wollte, über die Gesamtpartei doch wieder hineingedrückt werden.
Grundsätzlich sei bemerkt, daß sich eine Partei-Strukturreform nicht allein an der Frage der vermeintlichen Effektivität ausrichten darf. Es ist auch ein Recht jedes Menschen, Fehler machen zu dürfen und aus Fehlern zu lernen. Darum darf es m.E. nicht Aufgabe der Strukturreform sein, Fehler von vornherein auszuschließen. Denn wer will im vorhinein bestimmen, was Fehler sind und was, obwohl es zu-nächst als abwegig erscheint, ein zukunftsweisender Lösungsansatz sein könnte. Das gilt auch im Blick auf die Auswahl leitender Persönlichkeiten. Entscheidend ist, ob im Konfliktfall die jeweilige Gruppe, weil sie den Kandidaten im Gegen-satz zu den Parteitagen aus der Nähe gemeinsamer Diskussionen kennt, das Zünglein an der Waage bleibt.

VII.
Um dem Filz und der Überalterung in den leitenden Parteigremien zu wehren, haben wir in Schwante eine Zwei-Drittel-Mehrheit als Hürde für die Wiederwahl nach dem 8 Leitungsjahr eingebaut. Außerdem sollte der Amterhäufung und Vermischung von Partei- und Staatsinteressen ein Riegel vorgeschoben werden. Leider wird vor allem letzteres nicht immer durchzuhalten sein. Dennoch muß alles dafür getan werden, damit unterschiedliche Ämter nicht in einer Person vereinigt werden. Das führt nicht nur zu unerwünschter Machtfülle und mangelnder Auf-gabenerfüllung durch permanente Überlastung. Es schmälert vor allem das kon-krete Übungsfeld für begabte Nachwuchskräfte.

Die eigentliche politische Willensbildung geschieht in den Basisgruppen und übergeordneten Räten. Parteitage dienen der Selbstvergewisserung und Verbreiterung schon geschehener Meinungsbildung nach innen und nach außen. Außerdem ist es sinn-voll, die auf der Räte-Ebene für die Kandidatur gewählten Spitzenpolitiker hier noch einmal zur Wahl zu stellen. Denn sie, die sich in einer Region hervorgetan haben, können die Politik der Gesamtpartei nur vertreten, wenn sie auch in den anderen Regionen akzeptiert werden. Es ist im übrigen schon jetzt so, daß auf dem Bundesparteitag keine eigentlichen Wahlen mehr stattfinden, sondern die einzel-nen Landesverbände ihre Kandidaten durch untereinander im Vorfeld ausgetauschte „Tickets“ durchbringen. Um so dringlicher ist es. daß im Gegensatz zur bisherigen Praxis schon bei der Aufstellung für eine solche Kandidatur geheime Wahlen an die Stelle offenen Abstimmungen treten.

VIII.

Zum Schluß möchte ich dem Einwand begegnen, eine solche innerparteiliche Rätestruktur sei viel zu umständlich und zeitaufwendig für eine moderne Partei, die schnell reagieren muß. Der Entscheidungsweg der Räte-Struktur ist m.E. gar nicht so lang. Wir hätten in Deutschland etwa 5 Ebenen zu berücksichtigen. Zum Beispiel könnten regelmäßig an jedem 1. Donnerstag im Monat die Basisgruppen tagen. An jedem 2. Montag käme der Orts- bzw. Wohnbezirks-Parteirat zusammen. Am 3. Montag träfe sich der Kreisparteirat, jeden 4. Montag der Landesparteirat. Am 1. Montag im Monat könnte dann der Bundesparteirat seine Be-schlüsse fassen sowie die auf allen Ebenen gesammelten Problemfelder den Gruppen zur nächsten Beratungsrunde zuleiten. In besonders dringenden Fällen könnte das zu entscheidende Problem, sagen wir, am Montag benannt werden. Alle Mitglieder würden durch die Vorsitzenden telefonisch oder per E-mail zur Sitzung der Basisgruppen am Dienstag eingeladen. Das Ergebnis könnte am Mittwoch im Wohnbezirksrat, am Donnerstag im Kreispar-teirat behandelt werden. Am Freitag käme der Landesparteirat zusammen, und am Sonnabend könnte im Bundesparteirat auf Grundlage der Meinungsbildung aller Mitglieder Erdgültiges entschieden werden. Wenn man bedenkt, wie lange so manche Entscheidung in der SPD bisher gedauert hat, wäre dies ein ausgesprochen kurzer Weg. Vor allem aber handelt es sich dann nicht nur um eine mehr oder weniger mechanische Abstimmung, wie auf den großen Parteitagen, sondern um einen viel intensiveren Austausch von Argumenten und Gegenargu-menten. Solche Beschlüsse sind dann nicht nur die Summe der Gedanken einzelner Mitglieder. Sie  besitzen vielmehr eine neue Qualität.
Gerade weil es so schwer, wenn nicht aussichtslos erscheint, daß der Rätegedanke in unserem parlamentarischen System als Ganzem Einzug hält,9 sollten wir ihn wenigstens innerparteilich fruchtbar werden lassen. Auf diese Weise wird es uns gelingen, sowohl der Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft zu entsprechen als auch die unterschiedlichsten Sichtweisen auf repräsentative Weise in den Entscheidungsprozeß einfließen zu lassen. Neue Aktivitäten werden freigesetzt, wo Menschen ernst genommen werden, in allem mitbestimmen können, und die werden. Das führt nicht nur zu unerwünschter Machtfülle und mangelnder Auf-gabenerfüllung durch permanente Überlastung. Es schmälert vor allem das kon-krete Übungsfeld für begabte Nachwuchskräfte.
Die eigentliche politische Willensbildung geschieht in den Basisgruppen und den Riten. Parteitage dienen der Selbstvergewisserung und Verbreiterung schon geschehener Meinungsbildung nach innen und nach außen. Außerdem ist es sinn-voll, die auf der Räte-Ebene für die Kandidatur gewählten Spitzenpolitiker hier noch einmal zur Wahl zu stellen. Denn sie, die sich in einer Region hervorgetan haben, können die Politik der Gesamtpartei nur vertreten, wenn sie auch in den anderen Regionen akzeptiert werden. Es ist im übrigen schon jetzt so, daß auf dem Bundesparteitag keine eigentlichen Wahlen stattfinden, sondern die einzel-nen Landesverbände ihre Kandidaten durch untereinander im Vorfeld ausge-tauschte „Tickets“ durchbringen. Um so dringlicher ist es, daß im Gegensatz zur bisherigen Praxis schon bei der Aufstellung für eine solche Kandidatur geheime Wahlen an die Stelle der offenen Abstimmungen treten.


VIII.

Zum Schluß möchte ich dem Einwand begegnen, eine solche innerparteiliche Rätestruktur sei viel zu umständlich und zeitaufwendig für eine moderne Partei, die schnell reagieren muß. Der Entscheidungsweg der Räte-Struktur ist m.E. gar nicht so lang. Wir hätten in Deutschland etwa 5 Ebenen zu berücksichtigen. Zum Beispiel könnten regelmäßig an jedem I. Donnerstag im Monat die Basisgruppen tagen. An jedem 2. Montag käme der Orts- bzw. Wohnbezirks-Parteirat zusam-men. Am 3. Montag träfe sich der Kreisparteirat, jeden 4. Montag der Landes-parteirat. Und am I. Montag im Monat könnte der Bundesparteirat seine Be-schlüsse fassen sowie die auf allen Ebenen gesammelten Problemfelder den Gruppen zur nächsten Beratungsrunde zuleiten. In besonders dringenden Fällen könnte das zu entscheidende Problem. sagen wir, am Montag benannt werden Alle Mitglieder würden durch die Vorsitzenden telefonisch (Zukunftsmusik für die neuen Länder) zur Sitzung der Basisgruppen am Dienstag eingeladen. Das Ergebnis könnte am Mittwoch im Wohnbezirksrat, am Donnerstag im Kreispar-teirat behandelt werden. Am Freitag käme der Landesparteirat zusammen, und am Sonnabend könnte im Bundesparteirat aufgrund der Beteiligung der Sichtwei-sen aller Mitglieder Endgültiges entschieden werden. Wenn man bedenkt, wie lange so manche Entscheidung in der SPD bisher gedauert hat, wäre dies ein aus-gesprochen kurzer Weg. Vor allem aber handelt es sich dann nicht nur um eine mehr oder weniger mechanische Abstimmung. wie auf den grollen Parteitagen. sondern um einen viel intensiveren Austausch von Argumenten und Gegenargu-menten. Solche Beschlüsse sind dann nicht nur die Summe der Gedanken einzelner Mitglieder, sondern besitzen eine neue Qualität.
Gerade weil es so schwer, wenn nicht aussichtslos erschein!. daß der Rätegedanke in unserem parlamentarischen System als Ganzem Einzug hält°, sollten wir ihn wenigstens innerparteilich fruchtbar werden lassen. Auf diese Weise wird es uns gelingen, sowohl der Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft zu entsprechen als auch die unterschiedlichsten Sichtweisen auf repräsentative Weise in den Ent-scheidungsprozeß einfließen zu lassen. Neue Aktivitäten werden freigesetzt, wo Menschen ernst genommen werden, in allem mitbestimmen können, und die Strukturen ein erfolgreiches, gemeinsames Handeln ermöglichen. Darum plädiere ich, wie schon in Schwante so auch jetzt,  für eine innerparteiliche repräsentative Rätedemokratie.

Anmerkungen:

*  erschienen in: Vorwärts, rückwärts, seitwärts, Peter v. Oertzen, SPW-Vlg. 1991
1  So § 11 a-d  sowie §§ 16, 18 und 28 des Statuts der SDP vom 7. Oktober 1989.
2 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, Serie Pieper 1974.
3  Vgl. Konrad Elmer, Auf den Anfang kommt es an! In: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 2/1991,
S.136-140
4 Sicher hängt das Problem der Parteimüdigkeit auch mit den sonstigen Überforderungen zusammen,
die eine moderne, hochtechnisierte Gesellschaft dem Einzelnen zumutet. Unternehmen begegnen diesen Beanspruchungen durch ein Management mit entsprechender Bezahlung. Eine Partei ist aber keine Firma. Kraft und Wirkung erwachsen dem freiwilligen Engagement ihrer Mitglieder.
5  Diese Forderung ist, wenn auch in harmlosestem Sinn, in den vorn Vorstand  zusammengestellten „Materialien
und Thesen zur organisatorischen Erneuerung und Modernisierung der SPD, zu finden: „Die Ortsvereine sind
die Orte der demokratischen Willensbildung der Partei…“ (S. 5). Eine angemessene Größe der Ortsvereine
erleichtert das gegenseitige Kennenlernen und das Gespräch.“ (S. 30)
6 Vgl. Björn Engholm: „Laßt uns den Versuch unternehmen, mit all jenen ins Gespräch zu  kommen, die selbstbewußt und selbständig arbeiten, den Weg zur Partei aber noch nicht ge-funden haben… Diese Offenheit…ist zugleich eine Überlebensnotwendigkeit für jede große Volkspartei.“ (Rede auf dem Bundesparteitag in Bremen am 29. 5.1991.
7  Vgl. Björn Engholm: „Wir werden…als Partei um so erfolgreicher sein, je weniger wir unsere Vorhaben
an den Vorstandstischen hinter verschlossenen Türen formulieren. Erst eine Partei, die eine offene und
breite Diskussion mit den Menschen vor Ort, dort, wo die Sorgen herrschen, aufnimmt…, erst eine solche
Partei wird im Zentrum der Entwicklung stehen… Ich plädiere…dafür, den Einfluss der Mitglieder, der
Gliederungen, vom Ortsverein über den Kreisverband bis zum Parteirat zu stärken. Wir haben auch in
der Zukunft einer gewandelten Gesellschaft keine besseren Meinungsbildner und Multiplikatoren als die
Hunderttausende von Mitgliedern und Sympathisanten unserer Partei.“ (a.a.O.. S.12 u. 13)
8  Vgl. § 16 des Statutes der SDP. Wir sollten dennoch z.B. bei der bevor-stehenden Verfassungsreform
darauf drängen, daß. wie auf Bundesebene im Bundesrat die Länder, so auf Landesebene in einem neu
zu schaffenden „Landesrat“ die Kreise und auf Kreisebene in einem „Kreisrat“ entsprechend die
Kommunen stärkeres politisches Gewicht bekommen.
9  Björn Engholm, a.a.O., S.1

Das Wesen der Häresie

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THESEN
zur öffentlichen Verteidigung der Dissertation

Das Wesen der Häresie
Untersuchungen zum Häresieverständnis Karl Barths
im Zusammenhang seiner theologischen Erkenntnislehre

vorgelegt von Konrad Elmer
1.    Jeder Bestimmung von Häresie muß die Erarbeitung reiner Lehre vorausgehen. Eine bloß negative Aus-einandersetzung wird selbst häretisch.
2.    Schon vom Erkenntnisgrund an trennt sich der Weg der reinen Lehre von dem der Häresie. Alle späteren Differenzen sind Konsequenzen der hier gefallenen Entscheidung. Darum ist das Häresieproblem primär im Zusammenhang der Erkenntnislehre zu verhandeln.

A
Der Erkenntnisweg zur Bestimmung reiner Lehre
I. Das Ereignis des Wortes Gottes

3. Barth fragt nach der Bedingung der Möglichkeit des Anspruchs kirchlicher Rede, Rede von Gott zu sein. Dieser Anspruch besteht nur dann zu Recht, wenn es ein Wort Gottes selber gibt, das ein die Kirche ermöglichendes kritisches Gegenüber der Kirche bleibt.
4. Allein die Geschichte Christi ist das Wort Gottes, dessen wahrhaftiger Zeuge Jesus Christus selber ist. Seine Autorität ist aus dem Zusammenhang der Welt unableitbar, dem Glauben aber selbstverständlich.
4.1.     An die Stelle der Lehre von den „drei Gestalten des Wortes Gottes“ (KD 1/1) tritt in Barths Versöhnungslehre (KD IV/3) die strenge Unterscheidung zwischen Jesus Christus, dem einzigen Wort Gottes und den ihm entsprechenden „anderen wahren Worten“.
4.2.    Das Sein Jesu Christi ist nun das einzige Sakrament, das sich allein selbst vermittelt.
4.3.    Barths geschichtliche Interpretation der Zweinaturenlehre ist unzureichend, weil nicht in der Lage, der Frage nach dem historischen Jesus ihr theologisches Recht einzuräumen. Mit der Rückfrage nach dem historischen Jesus besteht die Theologie auf der Geschichtlichkeit der Offenbarung als einem wesentlichen Kriterium reiner Lehre.
5. Das Selbstzeugnis Jesu Christi geschieht im Zusammenhang mit den ihm entsprechenden Zeugnissen menschlich-geschöpflicher Art. Es gibt diese Zeugnisse in geordnet-abgestufter Reihenfolge als Heilige Schrift, als Verkündigung und als „wahre Worte extra muros ecclesiae“.
5.1.    Von der Geschichte Jesu Christi her ist die Schrift norma normata, gegenüber allen „anderen wahren Worten“  jedoch norma normans.
5.2.     Auch die Verkündigung wird nicht zum Wort Gottes selbst, sondern bleibt dessen gleichnishafte Entsprechung. Sie steht unter der Verheißung, daß sich das Selbstzeugnis Jesu Christi im Zusammenhang mit ihr ereignet.
5.3.     Die unbegrenzte Souveränität Jesu Christi nötigt Barth zur Lehre von den „wahren Worten extra muros ecclesiae“. Wahr sind solche Worte nur, wenn sie sachlich übereinstimmen mit dem Zeugnis von Schrift und Kirche. Die Bedeutung dieser irregulären Zeugen bleibt räumlich und zeitlich begrenzt.
5.4.    Das Zeugnis der Schöpfung möchte Barth lediglich als Selbstzeugnis verstanden wissen.
Dies ist m.E. eine unzulässige Abstraktion, denn ein wahres Selbstzeugnis der Schöpfung wird nur im Blick auf mehr als die Schöpfung und also nicht ohne Gottesbezug möglich sei.

5.5.    Zur Begründung einer alle Menschen betreffenden Schuld würdigt Barth in der postum veröffentlichten Ethik zur Versöhnungslehre das Zeugnis der ontologisch guten Natur des Menschen. Durch dieses Zeugnis hat sich Gott objektiv allen Menschen bekannt gemacht. Aufgrund der Sünde des Menschen wird das objektive Bekanntsein jedoch subjektiv nicht realisiert.
Weil Gottes objektives Bekanntsein aber wirksamer ist als unsere Sünde, kommt es auch bei   Menschen, die von den Zeugen Jesu Christi noch nicht erreicht worden sind, zu Gott betreffenden Ahnungen und Vermutungen. Diese führen allerdings über die Ambivalenz von Gottes Bekanntsein und seinem gleichzeitigen Unbekanntsein nicht hinaus. Sie können und dürfen als solche nicht systematisiert werden.

II. Theologie als dem Wort Gottes nachdenkende Bemühung um reine Lehre
6.       Die Wissenschaftlichkeit der Theologie ist ihre Sachbezogenheit.
6.1.    Theologie hat ihren Erkenntnisgegenstand auf dem von ihm selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen und zur Sprache zu bringen.
6.2.     Theologie ist eine grundsätzlich jedem Menschen zugängliche Denkbemühung, denn sie hat zwar die Äußerungen des Glaubens überhaupt, nicht aber, wie Barth fordert, mit Notwendigkeit den Glauben des Theologen selbst zur Voraussetzung.
7.       Zum sachgemäßen Verständnis der Offenbarung Gottes ist die Trinitätslehre unentbehrlich.
7.1.    Sie soll verhindern, daß das Sich-offenbaren-können Gottes als ein Zweites zum Sein Gottes erst hinzutritt. Nur wenn sich Gott von Ewigkeit her selbst gegenständlich ist (primäre Gegenständlichkeit), kann er sich auch seinem Geschöpf als einem anderen gegenständlich offenbaren (sekundäre Gegenständlichkeit).
7.2.     Die „sekundäre Gegenständlichkeit“ der Offenbarung ist die Geschichte des Menschen Jesus. Damit die Natur dieses Menschen nicht der Offenbarung als ein eigenständiger Ermöglichungsgrund gegenübertritt, setzt Barth die Erwählung dieses Menschen zum Bundesgenossen als inneren Grund der Schöpfung voraus. Auf diese Weise läßt er Sein durch Geschichtlichkeit konstituiert sein und bestimmt schon die Schöpfung als Gnade.
7.3.     Eine stringente Begründung der Trinitätslehre wird erst im Rahmen einer über Barth hinausgehenden staurozentrischen Theologie möglich, denn nicht der Offenbarungsbegriff als solcher, sondern erst der gekreuzigte Jesus als Christus nötigt das Denken, zwischen Gott und Gott zu unterscheiden.

8.       Jesus Christus ist der Vermittler aller Entsprechungsverhältnisse zwischen Schöpfer und Geschöpf in
ontologischer und noetischer Hinsicht.
8.1.     Ontologisch entspricht dem Sein des Menschen Jesus für Gott das Sein des Menschen in seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenossen, und dem Sein des Menschen Jesus für den Mitmenschen entspricht das Sein des Menschen mit dem Mitmenschen.
8.2.    Weil der Mensch sein Sein nur hat, indem er existiert, hat er als Mensch der Sünde seine gute Natur faktisch nur im Ereignis des Verderbens.
Der Glaube erst bringt den Menschen in die seinem Sein entsprechende Existenz. Darum gibt es für Barth keine analogia entis, sondern nur eine analogia fidei.
9.       Die Theologie ist, indem sie sich der Sprache bedient, immer auch Philosophie.
9.1.    Barth empfiehlt einen eklektischen Gebrauch philosophischer Begriffe.
9.2.     Begriffe sind jedoch keine leeren Hülsen, die man nach Belieben mit theologischen Inhalten füllen könnte. Sie bringen in die neue Umgebung ihre alten Inhalte immer auch mit und prägen den Denkhorizont. Daher ist eine die theologische Brauchbarkeit philosophischer Begriffe prüfende Besinnung vonnöten.
10.    Stärker als bei Barth muß zwischen begrifflich-dogmatischem Denken und kerygmatischer Predigt unterschieden werden.
10.1.     Die Wahrheit der Offenbarung gibt es nicht in Form vorhandener Sätze, sondern nur als Ereignis. Der Ort, an dem sie Ereignis wird, ist die Metapher, weil hier das, wovon die Rede ist, in die Rede selbst einkehrt. Die metaphorische Rede wahrt den Ereignischarakter, indem sie den Entdeckungscharakter wahrt. (E. Jüngel).
10.2     Die Predigt als Glauben gewährende Verkündigung des Evangeliums bezeugt kein System von Gedanken, sondern die Praxis Gottes in Jesus Christus. Sie lebt wesentlich von ansprechend-metaphorischer Rede.
10.3.     Die Begriffssprache des Theologischen Denkens kontrolliert die anredend-metaphorische Sprache der Predigt dahingehend, ob sie den Hörer auf die Geschichte Jesu Christi verweist. Dabei kommt es zur Formulierung der Lehre. Deren Reinheit hängt davon ab, ob sie ihrerseits auf die Wahrheit in Jesus Christus verweist und ob sie in je neuer Predigt praktisch werden kann.
10.4.     Reine Lehre ist ein Zielbegriff der Dogmatik und gehört, sofern sie am Geschick des Denkens partizipiert, auf die Seite des Gesetzes. Sie hat die Aufgabe, die Offenbarung jeweils neu in ihr Ereignis zurückzudenken. Dieses Ereignis ist mehr als ein Augenblicksgeschehen; es macht Geschichte.
11.     Das Bekenntnis ist eine Zusammenfassung reiner Lehre durch die Kirche als Ganze. Es antwortet auf das
Ereignis der Offenbarung und dient zur Abwehr konkreter Häresie.
Entscheidender Bekenntnissatz für die Auseinandersetzung mit den häretischen Lehrmeinungen der
Gegenwart ist für Barth die These 1 der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu  hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

B
Das paradoxe Faktum der Häresie
I. Natürliche Theologie als Häresie der Gegenwart

12.   Entscheidendes Kriterium zur Bestimmung gegenwärtiger Häresie ist für Barth die Damnation von
Barmen 1:
„Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
13.    Derartige „Nebenzentren“ zur Wahrheit in Jesus Christus entstehen durch die natürliche Theologie. Barth unterscheidet zwei komplementäre Erscheinungsformen: Die „Kirche im Exzeß“ und die „Kirche im Defekt“.
13.1.    Die „exzessive‘ Kirche identifiziert das eine Wort Gottes mit den anderen wahren Worten, vor allem mit denen der Kirche. Sie verfügt über die Wahrheit, die doch nur als unverfügbares Ereignis zu haben ist, und setzt sich damit selbst an die Stelle des lebendigen Herrn. Barth denkt hier vor allem an die römisch-katholische Kirche und benennt als erkenntnistheoretischen Fehlansatz die durch E. Przywara interpretierte Lehre von der analogia entis. Die eigentliche Intention dieser Lehre hat Barth jedoch nur unzureichend erkannt.
13.2.     Die „Kirche im Defekt“ ist ihrer Sache nur halb gewiß. Statt sich an die Wirklichkeit der Offenbarung zu halten, sucht sie Schutz bei irgendeiner Philosophie, um von dort aus zuerst nach der Möglichkeit des Glaubens zu fragen.
Als „Ahnherrn“ dieser Häresie nennt Barth Schleiermacher, ist sich aber dessen Zeit seines Lebens nicht sicher. Deutlichster Exponent sind die „Deutschen Christen“ Auch Bultmanns Theologie, die Barth weithin mißversteht, wird von ihm der Häresie verdächtigt.
14. Die natürliche Theologie der „exzessiven“ wie der „extravertierten“ Kirche hat zwar nicht das völlige Unbekanntsein Gottes zur Folge, da Gottes Selbstkundgabe unüberwindlich auch in diesen Kirchen wirksam ist. Es entsteht jedoch nun auch in der Kirche jene unfaßbare Ambivalenz zwischen Gottes Bekanntsein und seinem gleichzeitigen Unbekanntsein.
Statt dem konkret-offenbaren Geheimnis Gottes in Jesus Christus nachzudenken, erstellt das Denken selbst einen abstrakten Gottesbegriff; bei dem dann Gott nur noch unzureichend, weil nicht konkret, vom Sein der Welt zu unterscheiden ist.
15. Zur particula veri natürlicher Theologie gehört ihr Interesse an der Menschlichkeit Gottes und an dem universalen Anspruch der Offenbarungsgeschichte. Beides bringt Barth in besonderer Weise zu Ehren durch sein christozentrisches Denken von ontologischer Relevanz:
Die Menschlichkeit Gottes entfaltet er in der Lehre vom Sein Jesu am Anfang bei Gott und den
universalen Anspruch der Offenbarung in der Lehre vom ontologischen und noetischen Zusammenhang
zwischen Jesus Christus und allen übrigen Menschen.
Das Geheimnis der Menschlichkeit des Menschen in Jesus Christus ist der „Anknüpfungspunkt“, nach dem
alle natürliche Theologie so vergeblich sucht.

II. Häresie als „christliches“ Lügenwerk
16. Die Häresie unterläuft die subordinierten Entsprechungsverhältnisse der unterschiedlichen Zeugen Jesu Christi, indem sie andere wahre Worte niederer Stufe gleichberechtigt neben die einer höheren Stufe stellt.
17.  Barths Ausführungen zur Häresie entsprechen seinen Analysen zum Wesen der spezifisch „christlichen“ Lüge (KD IV/3). Zwar hat er selbst dies nicht expliziert, es ergibt sich aber aus dem Zusammenhang seines Denkens:
17.1.    Um Häretiker zu werden, muß man der Wahrheit in Jesus Christus schon direkt begegnet sein.
Das unterscheidet die Häresie vom Unglauben in Atheismus, Religion und Nostrifikation.
17.2.     Dem wahrhaftigen Zeugen Jesus Christus gegenüber aber kann der Mensch aufgrund des ontologischen Zusammenhangs keine neutrale Haltung einnehmen. Eine Ignorierung ist nur noch in Form der Lüge möglich. Der Lügner weicht vor der Wahrheit mit der „Wahrheit“ aus.
18.     Die schon geschehene Zueignung des neuen Seins in Christus unterscheidet m.E. nicht nur den. Glaubenden, sondern auch den Häretiker vom Ungläubigen. Sie ist die Bedingung der „Möglichkeit“ des simul credens et haereticus.
18.1.    Das neue Sein des Menschen extra se in Christus wird dem Glaubenden schon jetzt als „Sein des Übergangs“ vom Sünder zum Gerechten zugeeignet. (W. Krötke).
Erst aufgrund dieser Zueignung wird es „möglich“, als iustus der Wahrheit direkt zu begegnen und ihr dennoch als peccator lügnerisch auszuweichen.
18.2.     Häresie ist der Versuch des Glaubenden als Sünder, die ‚unumkehrbare’ Folge des Übergangs vom peccator zum iustus dennoch umzukehren und so die Wahrheit der Lüge nutzbar zu machen. So lügt er sich im Versuch der Selbstsicherung aus der Geschichte des Übergangs in den vermeintlichen Stand des schon Übergegangenen.
18.3.    Häresie ist Glaube im Ausweichen – ein Glaube, der in der Kraft seiner Wirklichkeit vor dieser Wirklichkeit flieht, ohne wirklich von ihr loszukommen.
19. Daraus ergibt sich folgende Definition zum Wesen der Häresie:
Häresie ist die unmögliche Faktizität „christlicher“ Lehre als Lüge
im Horizont des simul iustus et peccator,
die angesichts des Ereignisses der Wahrheit
Jesus Christus als dieses Ereignis
auf verdeckte Weise leugnet.

20.     Da die Lüge im Unterschied zur Wahrheit nicht einmal sich selbst treu bleibt, müssen alle Definitionsversuche zur Häresie in besonderer Weise zeitgebundene Versuche bleiben.
21.     Die Feststellung einer neuen Häresie kann nicht Aufgabe der Dogmatik sein. Sie geschieht durch die Kirche als Ganze im Zusammenhang einer neuen Bekenntnisentscheidung. Entsprechend Barths christozentrischem Häresiebegriff muß sich jede Häresie als eine christologische erweisen.
22.     Weil sachgemäße Theologie die eigene theologische Wirklichkeit nicht mit der Wahrheit verwechselt, wird sie auch nicht die vielfach fatale theologische Wirklichkeit anderer mit der Unwahrheit identifizieren. Vielmehr wird sie Wahrheitsanliegen und Lüge zu differenzieren versuchen.

23.    Jede Häresiebestimmung zielt auf die Sache, nicht auf die Person, die auch im schlimmsten Fall aufgrund
der unverlierbar guten Seinsstruktur von der Sünde unterscheidbar bleibt.
24. Die Überwindung der Häresie wird zuerst und vor allem die Sache Jesu Christi selber sein. Unsere Bewältigung des Problems steht und fällt mit der in ihm begründeten Siegesgewißheit. Das ihr entsprechende christliche Tun besteht darin, den „Vorrang des Wortes Gottes“ zu bedenken und durch unser Handeln zu bestätigen.
25. Keine Kirche kann so tief fallen, daß ihr Seinsgrund ins Wanken käme. Sie bleibt Kirche, wenn auch Kirche im Ausweichen vor ihrem eigenen Wesen.
Man wird die Häresie dabei behaften müssen, daß sie selbst Kirche sein möchte und sie auf Jesus
Christus als ihren Seinsgrund verweisen. Eine Trennung von ihr kann für Barth höchstens praktische,
nicht aber grundsätzliche Bedeutung haben.
26.    Solche Gelassenheit entspricht der Siegesgewißheit im Blick auf Jesus Christus. Die Lüge hätte es nur zu gern, feierlich bekämpft zu werden, denn eine Wahrheit, die zu ihrer Durchsetzung Gewalt benötigt, würde sich selbst als Wahrheit desavouieren. Stattdessen wird es darauf ankommen, daß der Häretiker als Verkündigung ein befreiendes Wort hört und als Lehre eine Dogmatik, die den „Vorrang des Wortes Gottes“ wahrt.
27.     Wenn die Kirche gar nicht zur Un-Kirche werden kann, weil die Herrschaft Jesu Christi auch in der häretischen Kirche noch immer größer ist als die der Lüge, so wird man m.E. auch einer häretisch lehrenden Kirche die kirchliche Gemeinschaft anbieten können. Voraussetzung einer solchen Union wäre allerdings, daß der Streit um Wahrheit und Lüge ungehindert weitergeht.
28.     Die ontologische Relevanz der christologischen Begründung Barthscher Theologie garantiert, daß das die christlichen Kirchen Verbindende in jedem Fall größer ist als das Trennende. Sie ermöglicht die Vision einer Kirche, die die Häresien für immer in sich selbst austrägt.

20. Mai 2009

Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Verfassungsrang

Filed under: Allgemein — Schlagwörter: , , , — Konrad Elmer-Herzig @ 16:01

Dr. Konrad Elmer-Herzig, Nansenstr. 6, 14471 Potsdam, Tel.: 9512904, elmer-herzig@gmx.de

Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn

im Verfassungsrang[1]

Konrad Elmer-Herzig

Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich

und verzehrte meine Kraft umsonst …

Jes 49,4

Die vom Europäischen Konvent erarbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union[2] – inzwischen Grundrechtsteil des Vertrages über eine Verfassung für Europa[3] – enthält in ihrer Präambel den Satz: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“ [4] Wie ist zu erklären, dass der Deutsche Bundestag dem problemlos zustimmte,[5] obwohl trotz größter Anstrengungen ein entsprechendes Anliegen im deutschen Einigungsprozess nicht verwirklicht werden konnte, nämlich Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn verfassungsrechtlich zu verankern?[6]

Am Beginn meiner damaligen Bemühungen stand die persönliche Erfahrung gelungener Mitmenschlichkeit jenseits staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Vorgaben in der Diktatur des realen DDR-Sozialismus. Die Schwierigkeiten und Defizite, in denen wir Ostdeutsche 40 Jahre zu leben hatten, beförderten ein Netzwerk zwischenmenschlicher Beziehungen. Für mich waren dies vor allem vielfältige Bezüge im kirchlichen Bereich, insbesondere in der Evangelischen Studentengemeinde Halle/S.[7] Nach der Wende entstand der Gedanke, dieses erfreuliche Nebenprodukt einer unerfreulichen Epoche in die neue Gesellschaft hinüberzuretten. Denn schon bald nach der deutschen Einheit zeichnete sich ab, dass außer Berlin als Hauptstadt und dem Grünen Pfeil für Rechtsabbieger nichts DDR-Spezifisches erhalten bleiben würde. Sollte aus unserer Zeit mehr überdauern, so war mir deutlich geworden, müsste dieses grundsätzlich Erstrebenswerte seinen Niederschlag in den Grundstrukturen der Gesellschaft, wenn möglich in der Verfassung, finden.

Als ich im Frühjahr 1991 von der SPD-Fraktion in die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK) gewählt wurde[8], fragte ich mich, worin ein spezifisch ostdeutscher Beitrag bestehen könnte. Mir war noch gut in Erinnerung, dass unsere westdeutschen Verwandten und Freunde bei allem, was sie im Osten zu Recht als schrecklich empfanden, meinten, es gäbe bei uns eine unkomplizierte Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit im persönlichen Umgang sowie mehr menschliche Wärme im Familiären und im Freundeskreis. Das sei im Westen so leider nicht mehr gegeben, vor allem, weil man nicht derart existentiell aufeinander angewiesen sei. Tatsächlich stellte auch ich trotz aller Herzlichkeit, die mir nach der Wende im Westen begegnete, ein etwas kühleres Gesamtklima im Umgang miteinander fest. Z.B. hatte ich in Bonn zu lernen, dass ich nicht jeden Kollegen einfach ansprechen und zu einer mir wichtigen Sache befragen konnte. Vielmehr war erst vorsichtig zu klären, ob der andere momentan überhaupt gewillt sei, mir sein Ohr zu leihen bzw. es ihm passen würde, gerade dies mit mir jetzt zu erörtern. Umgekehrt hörte ich Westdeutsche über den Osten klagen: Die Leute haben zu wenig Distanz, rücken einem immer gleich auf die Pelle, ja fallen mit der Tür ins Haus. Natürlich ist das überspitzt formuliert, aber etwas muss wohl daran sein, wenn man es von unterschiedlicher Seite zu hören bekommt. So war ich auf der Suche, für jenes ostdeutsche Spezifikum den passenden Begriff zu finden.

Im Frühjahr 1992 übergab mir der SPD-Obmann in der GVK, Hans-Jochen Vogel, einen Stapel Petitionen zur Kulturstaatlichkeit, insbesondere mehrere ihm zugesandte Veröffentlichungen von Helmut Breuer[9]. Bald darauf rief dieser mich an, und wir vereinbarten ein Treffen für den 3. Mai in meiner Pankower Wohnung. Ich sehe uns noch heute bei schönem Wetter im Garten sitzen, er in kaum endendem Redefluss sein sogenanntes ‚biosophisches’ Weltbild entfaltend und ich nach einem Begriff suchend für die Gemeinschaftsverbundenheit als ostdeutschen Beitrag zur Verfassungsdiskussion. Als in Breuers Rede der Begriff „mitmenschlich“ auftauchte, fiel mir ein, dass für Karl Barth, über dessen Theologie ich einst promovierte,[10] die Mitmenschlichkeit der anthropologische Zentralbegriff ist und er schwerste Vorwürfe gegen alle richtete, die das anders sehen: „Si quis dixerit, hominem esse solitarium, anathema sit!“[11] Darum vereinbarte ich mit Breuer, den Begriff Mitmenschlichkeit ins Zentrum gemeinsamer Verfassungsbemühungen zu stellen. Am 18. August schrieb ich einen entsprechenden Brief an Vogel, in dem ich ihm vorschlug, das westeuropäisch-atlantisch geprägte Grundgesetz mit seiner Betonung der individuellen Freiheitsrechte durch den die menschliche Gemeinschaft konstituierenden Begriff Mitmenschlichkeit als Ost und West einigendes Band zu ergänzen. Wegen der größeren Erfolgsaussichten wolle ich mich in dieser Sache um einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag bemühen.[12]

Beim ersten Zusammentreffen nach der Sommerpause sprach Vogel wohlwollend über meinen Brief und die beigelegten von Breuer inspirierten Ergänzungsvorschläge.[13] Zwar schien er selber davon noch nicht überzeugt zu sein, ich sollte die Sache jedoch weiter verfolgen. Er riet mir, den juristisch schwierigen Begriff Mitmenschlichkeit nicht auch noch mit dem von Breuer favorisierten Begriff Wahrhaftigkeit zu belasten. Dementsprechend legte ich in der nächsten SPD-Arbeitsgruppensitzung nur einen gekürzten Satz vor. Art. 7 (3) solle lauten: „Bildung zur Mitmenschlichkeit erfährt besondere Förderung.“[14]

Die Vertreter der Länder äußerten große Bedenken, in der Bundesverfassung ein Bildungsziel zu verankern. Ähnlich hatte schon der Verfassungsrechtler Isensee in der Anhörung zu den Staatszielen Bildung und Kultur am 16. Juni auf meine Frage geantwortet, ob wir nicht ein regulatives Prinzip wie „wahrhaftiges Bemühen um zwischenmenschliches Verständnis“ als Bildungsimpuls verankern sollten.[15]Damals gab er zu bedenken: Das sei „Thema der Landesverfassungen“. Dort allerdings dürfe sich „die Neigung zu Volkspädagogik und Volkskatechese“ sinnvoll äußern.[16]

Im weiteren Verlauf versuchte ich, möglichst viele Fraktionskolleginnen und -kollegen für die Sache zu gewinnen. Dabei stieß ich bei den Juristen auf wenig Resonanz. Später gelang es mir, einen Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit zu veröffentlichen.[17] Dort wies ich darauf hin, dass Mitmenschlichkeit mehr bedeute als der in der DDR missbrauchte Begriff Solidarität. Mitmenschlichkeit sei im Sinne Barthscher Anthropologie ein Wesenszug menschlichen Seins.[18] Außerdem verwendete ich den von Willy Brandt gern gebrauchten Begriff compassion, Mitgefühl, Mitleidensfähigkeit und verwies auf die Forderung Erich Fromms, von den zerstörerischen Formen der Hab-Gier Abstand zu nehmen und eine Kultur wahrhaftigen Mensch-Seins zu entwickeln. Was Not tue, sei ein reflektiertes Verhältnis zwischen Individualität und Soziabilität, Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit. Ich plädierte für eine Verankerung der Mitmenschlichkeit:

1. in der Präambel: „Im Bewußtsein,…dem Frieden, der Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit in der einen Welt zu dienen…“

2. in Art. 7(1): „Grundlegendes Bildungsziel ist Persönlichkeitsbildung zu Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit.“

Zu letzterem gab es bei den Ländervertretern wiederum große Vorbehalte. Vor allem Kultusminister Walter (Saarland, SPD) sah die Kulturhoheit der Länder gefährdet. Es gelang mir, in Einzelgesprächen dieses soweit auszuräumen, dass Vogel im Obleutegespräch mein Anliegen zu Art. 7(1) auf die Tagesordnung setzen konnte. Außerdem

hatte ich meinen Vorschlag allen Abgeordneten zukommen lassen,[19] woraufhin die CDU-Abgeordnete Rahardt-Vahldieck mir ihr Interesse bekundete.

In der nächsten Sitzung der GVK am 6.5.’93 erklärte ich zur Antragsbegründung,[20] die Mitmenschlichkeit sei ein grundlegendes Bildungsziel, denn der Mensch würde zum einen als Individuum seine Persönlichkeit entfalten, zum anderen sei er unabweisbar ein soziales Wesen, das sich nur im Zusammenhang mit anderen verwirklichen könne. Schon deshalb habe jeder auch eine Verantwortung für seine Mitmenschen. Neben der erwähnten Mitleidensfähigkeit verwies ich auf Jonas und sein ‚Prinzip Verantwortung‘ sowie auf die Rede Dürrs vom ‚Wärmetod der Zwischenmenschlichkeit‘ in unserer permissiven Gesellschaft. Mein Anliegen habe bei den Müttern und Vätern des Grundgesetzes wohl deshalb keine Rolle gespielt, weil dergleichen in den schweren Nachkriegsjahren viel zu selbstverständlich war, als dass dies eigens hätte ins Bewusstsein treten können. Ähnlich stelle sich die Sinnfrage erst dann, wenn den Menschen Lebenssinn abhanden gekommen ist. Entsprechend sei damals die Würde des Menschen stark verankert worden, weil sie zuvor mit Füßen getreten wurde. Dass der Gedanke der Mitmenschlichkeit heute auf die Tagesordnung komme, zeige, dass in unserer Gesellschaft hinsichtlich dieses Aspekts menschlicher Existenz ein Defizit zu spüren ist. Zu erkennen sei dies an der Atomisierung unserer Gesellschaft, am Rückzug ins Private und an mangelndem Gemeinsinn, so dass bisweilen schon von einem exzessiven Egoismus gesprochen wird.

Den Ost-West-Gedanken aus meinem Zeit-Artikel habe ich damals in folgender Weise verändert: Es äußere sich hier ein spezielles Anliegen ostdeutscher Befindlichkeit – nicht primär, weil es bei uns mehr Mitmenschlichkeit gäbe, sondern weil uns im Einigungsprozess das gelegentliche Fehlen dieses Aspekts besonders schmerzlich bewusst geworden sei. Auch verwies ich auf Václav Havels Bemerkung, dass man in der Diktatur die Bedeutung von Solidarität, persönlichem Risiko und Opfer erfahren und einige Geschenke des Lebens zu achten gelernt habe. Es gelänge bislang jedoch noch nicht besonders gut, diese Erfahrungen zu artikulieren und damit das europäische Bewusstsein zu bereichern.

Weiterhin führte ich aus, dass wir die Fähigkeit des Menschen zum Altruismus und dessen gesellschaftliche Notwendigkeit stärker betonen sollten.[21] Auch sei zu bedenken, dass nur wer sich in seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu begreifen vermag und einfühlsam mit sich selber umgeht, auch seinen Mitmenschen Selbstachtung vermitteln und ihnen einfühlsam begegnen könne. Auf den Zwischenruf „Verfassungslyrik“ entgegnete ich: Wenn es den Begriff Menschenwürde in unserer Verfassung noch nicht gäbe und jemand die Aufnahme dieses Begriffs fordern würde, würde er gewiss den gleichen Vorwurf ernten. Eine Verfassung ist der Grundlagenvertrag einer Gesellschaft und also mehr als eine Juristenverfassung. Menschen leben nicht nur in justiziablen Bezügen. Sie sind vor allem von Wertvorstellungen geprägt. Deshalb z.B. enthält die Hamburger Landesverfassung von 1952 nicht nur Rechte, sondern in ihrer Präambel auch „die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken.“[22]

Der Kulturhoheit der Länder Rechnung tragend wurde von mir bemerkt, dass dieses Bildungsziel, weil es das Menschsein überhaupt betreffe, so grundlegend sei, dass dadurch gar keine Länderspezifika berührt würden. Entsprechend hätten unlängst alle Kultusminister und Senatoren erklärt, „Initiativen anzuregen und zu stärken, die in Schule und Gesellschaft ein mitmenschliches Verhalten fördern.“[23]

Auf die Frage, was diese Verfassungsänderung bewirken könne, verwies ich auf die Gestaltung von Lehrplänen und Schulbüchern und darauf, dass jedes Wort der Verfassung bei Güterabwägungen herangezogen werden könne. So sei zu vermuten, dass es z.B. im Blick auf die Vereinsamung alter Menschen vom Begriff der Mitmenschlichkeit her neue Impulse für unsere Gesellschaft geben werde. Auch würden Urteile, mit deren Hilfe Urlauber vom Reiseveranstalter einen Teil ihres Geldes zurückbekamen, nur weil ein Behinderter der Reisegesellschaft angehörte, dann nicht mehr möglich sein.

Vor allem brächte diese Verfassungsergänzung uns Ostdeutschen nicht nur eine bessere Identifikationsmöglichkeit mit dem Grundgesetz, sondern einen Punkt, an dem wir uns im Einigungsprozess ernst genommen fühlten, weil hier auch einmal etwas von uns für ganz Deutschland übernommen würde und nicht nur immer umgekehrt wir alles Westdeutsche zu übernehmen hätten. Václav Havel betone zu Recht: Es gäbe offenbar auch unter einer Diktatur Dinge, die sich entwickeln können und bei denen es sich lohnt, in der endlich errungenen Freiheit über ihre Akzentsetzung nachzudenken.

Als Erster reagierte, mich unterstützend, Kultusminister Walter, obwohl er in der SPD-Arbeitsgruppe lange zu den Bedenkenträgern gehörte: Für ihn schließe der reiche Blumenstrauß an Bildungszielen, den wir in den Länderverfassungen finden, nicht mehr aus, dass einzelne überragende Erziehungsziele von allgemeingültiger ethischer Bedeutung und allgemeinem Bewusstsein auch in das Grundgesetz aufgenommen werden könnten, ohne dass hierdurch die Kompetenzverteilung im Kulturbereich beeinträchtigt wird. Die mit zunehmender Gewaltbereitschaft einhergehenden Gefahren für den verfassungsrechtlichen Kern unseres demokratischen Rechtsstaats würden es notwendig machen, auf solche Gefahren auch auf dieser Rechtsebene zu reagieren. Das habe nicht nur defensiv zu geschehen, sondern, wie hier vorgeschlagen, zugleich positiv mit dem Ziel der Persönlichkeitsbildung zu Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit.

Hirsch (FDP) und Wilhelm (CSU) lehnten ab, Letzterer mit dem Argument, es sei nicht einsichtig, warum gerade diese beiden Erziehungsziele an so herausragender Stelle stehen sollten und nicht statt dessen vielleicht „Erziehung zur Solidarität und zum Gemeinschaftsdenken“.

Heuer (PDS) signalisierte Zustimmung, ergänzte jedoch, dass dergleichen idealistisch bliebe, solange nicht auch jene gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse angegangen würden, die der Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit entgegenwirkten, solange also soziale Grundrechte und soziale Staatsziele nicht gleichfalls aufgenommen würden.

Innenminister Bull (Schleswig-Holstein, SPD) unterstrich: Es zeige sich bei den Gegnern dieser Verfassungsergänzung ein bedauerlicher Mangel an Sensibilität für die nicht streng juristischen Funktionen einer Verfassung. Nach seinem Eindruck glaubten manche, eine Verfassung müsse sich auf harte Normen für harte Macher beschränken. Die halbe Präambel würde dann jedoch diesem Urteil verfallen. Die vorgeschlagene Ergänzung sei eine Ermutigung für Lehrer, die sich nicht auf bloße Wissensvermittlung beschränkten, sondern die Persönlichkeit ihrer Schüler bilden wollten. Jedem, der unsere Gesellschaft in diesen Jahren beobachte, sei klar, dass wir ein Übermaß an Selbstentfaltung, Egoismus und Sankt-Florians-Verhalten vorfinden. Dies würde von unserer derzeitigen Verfassung sogar gefördert. Man könne nämlich sagen, Art. 2 Abs. 1, das Obergrundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, sei das, was die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft bewogen habe, primär an ihren Geldbeutel, ihr Fortkommen und ihren privaten Erfolg zu denken. Daher wäre es wohl begründet, auch die Gegenposition in die Verfassung zu schreiben.[24]

Ministerin Schoppe (Bündnis90/Die Grünen) hatte Probleme mit dem Begriff Mitmenschlichkeit[25] und plädierte stattdessen für „freie Selbstbestimmung und soziale Verantwortung“.[26]

Rahardt-Vahldieck zeigte Sympathie weniger für eine Ergänzung in Art. 7 als vielmehr in Art. 2 (1), weil die Sache dort mit erheblich höherem Rang, ja Vorrang versehen sei. Das Grundgesetz habe in seiner Entstehungszeit die Abwehrrechte gegen den Staat und die Freiheitsrechte des Einzelnen betonen müssen. Der Gesichtspunkt der Mitmenschlichkeit sei als Grundlage einfach vorausgesetzt gewesen. Die Menschenwürde sei ohne Mitmenschlichkeit nicht denkbar. Offenbar sei damals die Auffassung allgemein gewesen, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe seien bereits in Art. 1 und in der Präambel angelegt und einer besonderen Ausformulierung nicht bedürftig. In ihrer Fraktion gäbe es zu diesem Antrag noch erheblichen Beratungsbedarf. Denn wenn wir anfangen, Normen oder Aussagen unterzubringen, die staatlicherseits nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden können oder an die Handlungen zu knüpfen gar nicht beabsichtigt ist, dann wird es schwierig, weil die Mitmenschlichkeit nicht der einzige Begriff ist, der in dieser Verfassung gut untergebracht wäre.

Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen) konnte das Anliegen nur kurz unterstützen, da er von Scholz in seiner Rede unterbrochen und zur Verlesung der angekündigten Erklärung zur bevorstehenden Einstellung seiner Mitarbeit in der Verfassungskommission aufgefordert wurde. Ullmann begründete sein Ausscheiden damit, dass ein Einstehen für die Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Bevölkerung in den Ostländern unter den in dieser Kommission gegebenen Bedingungen nicht möglich sei. Er sei nicht bereit, die Verantwortung hierfür weiter mitzutragen.[27]

Nach dieser zum Verhandlungsgegenstand sinnreich passenden Unterbrechung bedauerte die Niedersächsische Ministerin Alm-Merk (SPD) das Ausscheiden Ullmanns. Die deutsche Bevölkerung aus der ehemaligen DDR habe sicher mehr erwartet, als wir hier bisher erreichten. Die Mitmenschlichkeit in das Grundgesetz aufzunehmen, sei des Nachdenkens wert. Gerade nach dem Weggang Ullmanns solle man überlegen, ob es angesichts der vielen Erfahrungen, die von den einen erlebt, von den anderen allenfalls beobachtet werden konnten, nicht ratsam sei, auf eine solche ostdeutsche Stimme zu hören.[28]

Im Weiteren kam ich zu der Auffassung, dass die Grundrechtsartikel nichts anderes sind als präzisierende Auslegungen des verfassungsrechtlichen Oberbegriffs Menschenwürde, die entsprechend der französischen Revolution als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu entfalten ist. Im Grundgesetz geschieht dies einseitig zu Gunsten der Freiheitsrechte. Schon in der Präambel findet sich ein solcher Vorrang durch das Achtergewicht des Freiheitsbegriffs und seine Verstärkung durch die Wendung „in freier Selbstbestimmung“. Im Grundrechtsteil steht die Freiheit nicht nur an erster Stelle, sondern wird in nachfolgenden Artikeln weiter verstärkt. Nachdem auch die Gleichheitsrechte weiterentwickelt wurden,[29] verbleibt als dringliche Aufgabe, der dritten Dimension menschenwürdigen Lebens, der Brüderlichkeit, zum Recht zu verhelfen. Offensichtlich besteht bei der Entfaltung der Würdeverpflichtung des Art. 1 ein „kodifikatorisches Ungleichgewicht“[30] zwischen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Letztere sucht man im Grundgesetz vergeblich.[31] Lediglich Solidarität klingt in den Artikeln 6,12(2),13(3),14(2,3) und 15 von Ferne an und ist im Staatsziel ’sozialer Bundesstaat’, Art. 20(1), zu finden. Das steht jedoch in keinem Verhältnis zu der starken Verankerung der Gleichheit und erst recht nicht zu dem alles andere überragenden Freiheitsbegriff.

Dagegen enthält der Verfassungsentwurf des Runden Tisches im Kapitel Menschen- und Bürgerrechte einen Gedanken, der in der Lage ist, die Brüderlichkeit zum Ausdruck zu bringen: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“[32] Zwar liegt im Begriff der Anerkennung die Möglichkeit einer relativ distanzierten Bezugnahme auf den Mitmenschen. Das Wort ’schuldet‘ involviert jedoch ein im Falle der Ungleichheit dem anderen helfendes Zur-Seite-Stehen, das dem Anliegen der Mitmenschlichkeit nahe kommt.[33]

Der Entwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder ergänzt diesen Gedanken in der Präambel durch den Satz vom „Gemeinwesen… in dem das Wohl und die Stärke Aller aus dem Schutz der Schwachen erwächst.“ Beim Begriff Schutz bleibt wiederum ein relativ distanziertes Verhältnis zum Mitmenschen möglich. Immerhin wird die Bereitschaft gefordert, Schaden von ihm abzuwenden. Im Grundrechtsteil heißt der für unsere Thematik entscheidende Satz: „Alle erkennen einander als Gleiche in ihrer Würde an.“[34] Zum einen ist durch Wegfall des Wortes ’schuldet‘ die Distanzierungsmöglichkeit größer geworden. Zum anderen könnte durch den später folgenden Begriff Teilhabe[35] der Boden für die Brüderlichkeit bereitet sein.

Zum erste Berichterstattergespräch am 27.5.1993 legte ich vier Varianten zur Platzierung der Mitmenschlichkeit im Grundgesetz vor:

1. Die Ergänzung der Schrankentrias in Art. 2 um das „Gebot der Mitmenschlich-

keit.“

2. Einen neuen Absatz in Art. 2: „Jeder ist zur Mitmenschlichkeit aufgerufen.“

3. Eine Ergänzung in Art.7 (1): „Grundlegendes Bildungsziel ist Persönlichkeits-

bildung zu Selbstbestimmung und Mitmenschlichkeit.“

4. wie 3., aber im Vorsatz statt „Aufsicht des Staates“ jetzt „Aufsicht der Länder“,

um die Bedenken der Länder, ihre Kulturhoheit betreffend, auszuräumen.[36]

Rahardt-Vahldieck unterstützte mich damals noch zögernd fragend, ob es notwendig sei, den Begriff Mitmenschlichkeit im Grundgesetz gesondert zu erwähnen. Unbeschadet dessen würde sie einer Verortung dieses Begriffs in Art. 2 den Vorzug vor einer Platzierung in Art. 7 geben, weil Letzteres die Mitmenschlichkeit auf die Bildung reduziere. Es solle jedoch die Werteordnung des Grundgesetzes im Ganzen ergänzt werden. Die zunehmende egoistische Grundhaltung, die aktuellen Gewalttätigkeiten sowie ein allgemein zu beobachtender Verfall der Sitten und gesellschaftlichen Übereinkünfte rechtfertige die Aufnahme dieses verfassungsrechtlichen Signals zur Gegensteuerung.

Justizminister Remmers (Sachsen-Anhalt, CDU) erklärte: Ähnlich der verfassungsrechtlich festgelegten Sozialpflichtigkeit des Eigentums sei es vorstellbar, in dieser Weise eine Sozialpflichtigkeit der Freiheit verfassungsrechtlich zu begründen. Hierfür sei Art. 2 der richtige Ort. Ihm läge an der Signalwirkung eines mitmenschlichen Polsters vor den Rechtsgrenzen. Er stelle sich indes die Frage, wie das Gebot der Mitmenschlichkeit von Staats wegen durchgesetzt werden könne.

Justizminister Helmrich (Mecklenburg-Vorpommern, CDU) meinte: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit dürfe nicht auf Kosten der Mitmenschlichkeit gehen. Bei aller Sympathie für den Vorschlag bestehe in der Arbeitsgruppe Verfassungsreform seiner Fraktion keine große Neigung zu dessen Verwirklichung.

Bull wollte das eher hierarchisch dem Menschen vorgehaltene Sittengesetz in Gänze durch den gleichberechtigt wirkenden Begriff Mitmenschlichkeit ersetzen.

Ministerialdirektor Heyde (Bundesministerium der Justiz) legte dar, dass Variante 2 die Qualifikation der Mitmenschlichkeit als Staatsziel vermeide, weswegen ihm die systematische Einordnung meines Anliegens unter die Staatsziele nie eingeleuchtet habe.[37] Weiterhin stelle er die Frage nach der Justiziabilität der Mitmenschlichkeit.

Walter meinte, es sei problematisch, zwischen den Abwehr- und den Freiheitsrechten den Aufruf zur Mitmenschlichkeit einzuordnen.

Dem widersprach Bräutigam (Brandenburg, SPD) mit dem Argument, es gäbe auch sonst im Grundgesetz durchaus die Vermischung von Rechten und Pflichten.

Ministerialdirektor Bergmann (Bundesministerium des Innern) wies darauf hin, dass die Ausübung von Rechten grundsätzlich nur durch ein ethisches Minimum begrenzt werde und also eine Antinomie zwischen den Rechten anderer und der Mitmenschlichkeit entstehen könne.

Bull hob hervor, dass durch den Mitmenschlichkeitsbegriff durchaus ein anderer Ton in die Verfassung käme.[38]

Busch betonte, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtssprechung das Menschenbild des Grundgesetzes nicht als das eines isolierten souveränen Individuums gesehen, sondern immer die Gemeinschaftsverbundenheit und Gemeinschaftsbezogenheit der Person betont habe.[39] Er wies darauf hin, dass Bedenken aus Art. 79 (3) gegen unsere Änderung schon deshalb nicht zu erwarten seien, weil 1956 sogar Art. 1(3) ohne Einwendungen geändert wurde. Dies ließ in mir den Gedanken aufkommen, man könne die Mitmenschlichkeit vielleicht sogar folgendermaßen in Art 1(2) einfügen: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens, der Gerechtigkeit und der Mitmenschlichkeit in der einen Welt.“

Zwei Wochen später zum 2. Berichterstattergespräch am 17. Juni hatte ich in meinen ‚Erweiterten Vorschlägen’[40] Art. 2(2) und 2(3) getauscht, so dass der Satz, „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit aufgerufen“, am Ende von Art. 2 stand. Vorschlag 4 war gestrichen, stattdessen fügte ich zwei neue Platzierungsvorschläge hinzu. So wollte ich für obigen Aufruf einen eigenen Artikel 2a oder 3a schaffen. Damit hätten wir gleichberechtigt je einen Artikel für Freiheit, einen für Gleichheit und einen für Mitmenschlichkeit als die drei grundlegenden Auslegungen der Menschenwürde geschaffen. Zur Diskussionseröffnung verwies ich auf den soeben stattgefundenen Evangelischen Kirchentag mit seiner Forderung nach einem „Netz der Mitmenschlichkeit“ .

Steinbach-Hermann (CDU) berichtete, dass in ihrer Fraktion Sympathie für das Anliegen zu beobachten sei. Ob sich diese Sympathie zu einer positiven Mehrheitsentscheidung verstärken werde, lasse sich jetzt noch nicht sagen. Vor allem sei die mangelnde Justiziabilität eines Gebots der Mitmenschlichkeit offenkundig.

Bräutigam betonte: Die gegenwärtigen Zeitumstände, gekennzeichnet durch gewalttätigen Rechtsextremismus, seien für die Aufnahme der Mitmenschlichkeit in das Grundgesetz günstig. Hierbei handle es sich nicht allein um ein Anliegen der Neuen Bundesländer, sondern der gesamten Bundesrepublik. An der Standortfrage dürfe die Sache nicht scheitern. Da die Mitmenschlichkeit der Menschenwürde nahe stehe, gehöre sie zu den Grundlagen unserer Verfassung. Deshalb wäre ein eigener Artikel in dessen Nähe angemessen.[41]

Rahardt-Vahldieck schlug vor, die Mitmenschlichkeit um die Forderung nach Gemeinsinn zu ergänzen. Dies war ein von Helmrich stammender Gedanke, den wir drei im Vorfeld einvernehmlich diskutiert hatten.

Ich verwies auf den anthropozentrischen Aspekt der Mitmenschlichkeit, der durch den Gemeinsinn als Verantwortung für Staat und Gesellschaft bis hin zum Erhalt der Schöpfung sinnvoll ausgeglichen würde und favorisierte einen eigenständigen Artikel 2a oder 3a: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.“[42]

Im 3. und letzten Berichterstattergespräch am 1. Juli erklärte Rahardt-Vahldieck: Der Eindruck in ihrer Arbeitsgruppe werde wohl insgesamt mit der Feststellung wiedergegeben, dass unser Vorschlag nicht notwendig sei – indes aber auch nicht schade. Sie empfahl einen Gruppenantrag, bei dem auch Ländervertreter unterschreiben sollten. Helmrich besitze bereits einen entsprechenden mecklenburgischen Kabinettsbeschluss.

Die anwesenden Beauftragten der Bundesregierung gaben zu bedenken, dass unser Vorschlag verfassungssystematisch ein Fremdkörper sei.

Schmude (SPD) erwiderte: Die Gemeinsame Verfassungskommission solle den Mut haben, das Grundgesetz um ethische Postulate zu bereichern. Die Wertevorstellung des Grundrechtsteils der Verfassung würde durch diese Ergänzung eine bestimmte Akzentuierung erfahren. Der Vorschlag stelle keine Grundrechtsschranke dar. Auch könnten Rechtsansprüche aus ihm nicht abgeleitet werden.

Abschließend einigten sich die Berichterstatter auf folgenden Antragstext:

„In das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wird folgender neuer Artikel eingefügt: Artikel 2a: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.“

Dieser Antrag wurde am noch am gleichen Tag zur 25. Sitzung der GVK eingebracht. Ich gab meinen Redebeitrag, der die bisherigen Argumente zusammenfasste, zu Protokoll.[43] Darin definierte ich die Mitmenschlichkeit als das neutralere Wort für Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Es entspräche der in der Präambel angesprochenen Beseeltheit, dem Frieden zu dienen. Mitmenschlichkeit unterstreiche die Natur des Menschen, der als Wesen der Sprache nicht allein existieren könne, sondern auf Seinesgleichen angewiesen sei. Wer Mensch sagt, müsse immer zugleich die menschliche Gemeinschaft mitdenken. Gemeinsinn sei Mitmenschlichkeit auf überindividueller Ebene zur Schaffung hilfreicher gesellschaftlicher Strukturen und zum Erhalt einer lebenswerten Umwelt für künftige Generationen. Sodann setzte ich mich mit folgenden Einwänden auseinander:

1. Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn gehören in die Gesellschaft und nicht in die Verfassung.

Meine Antwort: Die Verfassung sei selbst wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Gerade weil Letztere grundlegend auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn angewiesen sei, habe sich das Bundesverfassungsgericht schon 1954 genötigt gesehen, der fehlenden Erwähnung dieses Aspekts durch eine eigene Rechtssprechung zum Menschenbild des Grundgesetzes abzuhelfen.

2. Wenn diese Begriffe unbedingt in die Verfassung gehören würden, wären sie bereits von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes aufgenommen worden.

Hierzu präzisierte ich den Gedanken diesbezüglicher Blindheit wegen allzu großer Selbstverständlichkeit von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in der Nachkriegszeit. Die aufgrund der schlimmen NS-Erfahrung damals stark gemachten Abwehrrechte würden heutzutage zu dem Missverständnis führen, als sei von Verfassungs wegen dem Individualismus Priorität eingeräumt. Dies führe zu der beklagten Atomisierung unserer Gesellschaft und zum „Wärmetod der Zwischenmenschlichkeit“ (Dürr).

3. Es sei unnötig, diese Begriffe aufzunehmen, da sie in der Menschenwürde bereits enthalten sind.

Ich gab zu bedenken, dass auch die anderen Zentralbegriffe Freiheit und Gleichheit darin enthalten sind und diese dennoch im Grundgesetz weiter entfaltet werden. Da dies bei dem der Brüderlichkeit entsprechendem Begriff jedoch nicht der Fall sei, entstehe ein kodifikatorisches Ungleichgewicht, das allein durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend ausgeglichen würde.

4. Es handle sich um nicht-justiziable Verfassungslyrik.

Diesem am häufigsten zu hörenden Einwand begegnete ich mit dem Hinweis, dass jede Verfassung sich immer auch im Vorfeld des Rechts bewege. Sie sei ein Gesellschaftsvertrag, zu dem Grundwerte gehörten. Auch die Menschenwürde sei erst durch beständiges Bemühen des Bundesverfassungsgerichts in ihren justiziablen Bezügen entfaltet worden.

5. Die Aufnahme dieser Begriffe ins Grundgesetz würde nichts bewirken.

Dagegen spricht, dass jeder neue Verfassungsbegriff, insbesondere ein Wertbegriff, bei Güterabwägungen zukünftiger Verfassungsauslegung eine Rolle spielen kann. Es kommt durch die beiden Begriffe eine andere Akzentuierung in die Verfassung, die ihre Wirkung zeitigen wird.

Zusammenfassend wies ich darauf hin, dass die Aufnahme dieses aus Ostdeutschland kommenden Anliegens geeignet sei, uns verstärkt mit der gesamtdeutschen Verfassung zu identifizieren. Mitmenschlichkeit sei eine aus der Natur des Menschen sich ergebende Verpflichtung, eine Art „Lockruf zum Leben“[44]. Gemeinsinn wiederum sei Mitmenschlichkeit auf überindividueller Ebene, der Gestaltungswille zur Schaffung einer für die Entwicklung von Mitmenschlichkeit hilfreichen gesellschaftlichen Struktur. Intendiert sei ein Wertewandel im Sinne Erich Fromms, weg von einer Kultur des Habens und Immer-mehr-haben-Müssens, hin zum Sein, zum Mitsein mit jedem Wesen, insbesondere mit dem, welches ein menschliches Antlitz trägt.

Rahardt-Vahldieck führte aus: Sie als Juristin habe sich an den Vorschlag erst gewöhnen müssen. Sie unterstütze ihn aber jetzt voll und ganz, denn es fehle in unserer Verfassung der „letzte Teil der Trinität, die Brüderlichkeit“, während Freiheit und Gleichheit von bloßen Abwehrrechten sogar zu staatlichen Schutzpflichten weiterentwickelt wurden. Mit der Aufnahme von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn würde ein Signal gesetzt, dass wir das Grundgesetz auch als ein Grundgesetz für die Schwächeren in unserer Gesellschaft verstehen.[45]

Mit Nachdruck verwendete sich Helmrich für unseren Vorschlag und beklagte den „überbordenden Individualismus“ [46] unserer derzeitigen Rechtssprechung, dem auf diese Weise etwas entgegengesetzt werden könne.

Als Hauptgegner äußerte sich der Sächsische Justizminister Heitmann (CDU): „Unsere Verfassung ist nicht die Bibel, und der Staat ist nicht der liebe Gott. Durch Verfassungssentimentalitäten jedenfalls wird der Mensch nicht besser, aber das Grundgesetz schlechter, und zwar auch aus ostdeutscher Sicht… Der edle Klang der beiden Begriffe und unsere Sehnsucht nach ihrer Realität im gesellschaftlichen Miteinander darf nicht über ihre Inhaltsleere im Rahmen der Verfassung hinwegtäuschen.“[47]

Ähnlich votierte Hirsch: „Man darf nicht vergessen, dass das Grundgesetz trotz allem immer noch ein Gesetz ist und wir uns deshalb solcher Begriffe bedienen müssen, die eine rechtliche Qualität haben.“[48]

Nachdem Barbe (SPD), die zur Wendezeit mit anderen und mir einst die SDP[49] gründete, sich energisch gegen das Heitmannsche Votum gewandt hatte, wurde über unseren Antrag abgestimmt: Mit 36 Ja-Stimmen, 21 Nein-Stimmen und 2 Enthaltungen hatten wir zwar die Mehrheit, aber nicht die nötige 2/3-Mehrheit auf unserer Seite. Scholz und Voscherau bemühten sich, die Angelegenheit mit freundlichen Worten ad acta zu legen: „Herr Elmer ist mit Sicherheit in die deutsche Verfassungsgeschichte eingegangen.“[50] So schnell freilich wollte ich nicht aufgeben.

Drei Tage später bescheinigte mir der Tagesspiegel „Hartnäckiges Eintreten für Mitmenschlichkeit im Verfassungsrang“[51] und vermutete, dass im Parlament und in der Länderkammer der Antrag durchaus mehr Chancen haben könnte, als so mancher Antrag, der in der GVK die Zweidrittelmehrheit erlangte. Vor allem schrieb der bei Konservativen hochgeschätzte Bonner Staatsrechtler Isensee seinem Berufskollegen Scholz ins Stammbuch: „Von all den zahlreichen Änderungsanträgen, die gescheitert sind, ist es um einen schade, einen neuen Art. 2a GG, der Unterstützung quer durch alle Fraktionen erfahren hat: ‚Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen’… Daraus ergäbe sich ein verfassungspädagogisches Signal, das, auch wenn die liberalen Grundrechte von Haus aus ‚Versicherungen des Egoismus’ (Karl Marx) sind, ihre Ausübung sich nicht in Anspruchsegozentrik erschöpfen darf. Der Vorschlag nennt eine mit staatlichem Befehl und Zwang nicht erzwingbare Verfassungsvoraussetzung, aus der die Grundrechtsdemokratie lebt.“[52]

Noch heute klingen mir die Worte des CDU/CSU-Obmanns Jahn im Ohr: „Herr Elmer, dass sich der Isensee auf ihre Seite stellt, das macht uns schon zu schaffen.“ Leider hatte sich Isensee erst spät in dieser Weise geäußert[53] und nach Auskunft von Rahardt-Vahldieck in früheren Vorbereitungssitzungen der CDU/CSU-Verfassungsgruppe unserem Vorschlag gegenüber zurückhaltend votiert.

Ich verabredete mit ihm ein Treffen in seinem Institut, zu dem außer Rahardt-Vahldieck auch der uns zugeneigte ostdeutsche Prof. Schnittler (FDP) eingeladen wurde. Damals riet uns Isensee, jeden Anschein einer zusätzlichen Einschränkung der Freiheitsrechte zu vermeiden. Später habe ich ihm meine Antragsbegründung zugesandt, zu der er hilfreiche Änderungsvorschläge unterbreitete.

Bis zur bevorstehenden Parlamentsdebatte war bei den eigenen Fraktionsmitgliedern Überzeugungsarbeit zu leisten. Auf dem SPD-Parteitag[54] gelang es Vogel, den Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn als offiziellen SPD-Verfassungsreformvor-schlag absegnen zu lassen. Auch galt es, weitere Mitstreiter in den anderen Fraktionen zu gewinnen, die den Antrag als Miteinbringende unterschreiben würden. Außer Rahardt-Vahldieck hatte ich Schnittler als Haupteinbringer gewonnen, damit schon im Antragskopf nicht nur eine große Koalition, sondern die generelle Überparteilichkeit unseres Anliegens zum Ausdruck kommt.

Schwieriger war es, an die FDP-Leitfigur heranzukommen. FDP-Abgeordnete erklärten mir, dass der liberale Genscher das niemals unterschreiben würde. Daraufhin habe ich mir zusichern lassen, dass, wenn er mir den Antrag unterschreibt, auch sie dabei sein werden. Als ich nach längerem Warten einen Gesprächstermin bei Genscher bekam und ihm von meiner Hallenser Studentenzeit erzählte, sprach er kurz entschlossen: „Na, dann mal her damit“, und unterschrieb. Nun war auch bei den Liberalen der Bann gebrochen und die Mehrheit bald auf unserem Antrag zu finden.

Tag für Tag ging ich im Plenum quer durch alle Fraktionen und warb um eines jeden Unterschrift. Das führte dazu, dass manche, die schon unterschrieben hatten, mir freundlich zulächelten, während andere mir aus dem Weg gingen. Als ich CDU/CSU-Vorstandsmitglied Hintze zum wiederholten Mal befragte, schimpfte er mich einen ‚Terroristen der Mitmenschlichkeit’. Auf der anderen Seite schauten einige SPD-Kolleginnen scheel, weil ich so oft in den Bankreihen der ungeliebten CDU/CSU-Fraktion zu sehen war.

Erst als ich auf diese Weise in wenigen Wochen die Mehrheit der Abgeordneten per Unterschrift für unseren Antrag gewonnen hatte, erkannte auch die eigene Fraktionsführung den Ernst der Sache[55], und ein Mitarbeiter wurde beauftragt, mir bei den Einbringungsformalitäten zu helfen.

Am 31.1.1994 erreichte unser Antrag unter Drucksache 12/6708 die parlamentarische Öffentlichkeit, und am 2. Februar konnten wir in einer Presseerklärung bekannt geben, dass 345 Abgeordnete, also die Mehrheit aller Fraktionen und Gruppierungen des Bundestages, den neuen Artikel 2a als Miteinbringer unterstützen.[56] Inzwischen hatten selbst Kollegen unterschrieben, die in der Verfassungskommission noch dagegen stimmten.

Helmut Kohl habe ich in der Cafeteria des Bundestages unseren Antrag mit kurzen Worten überreicht, ebenso Schäuble, der auf Anfrage seiner eigenen Leute, ob sie unterschreiben dürften, immerhin die Parole herausgab: “Ich bin zwar nicht dafür, aber es wird auch nicht schaden.“ Im Gespräch mit mir am Rande einer Parlamentsdebatte meinte er: „Ja, ihr braucht das wohl.“ Beide überließen jedoch Scholz das Feld und mögen bei sich gedacht haben: Jede Verfassungsergänzung schränkt die Handlungsfreiheit der Regierenden ein, und niemand weiß, was die Gerichte daraus ableiten werden. Warum sollen wir uns das antun? Mit anderen Worten, hier war die Verfassungsgebung allein in die Hände der Parteien, insbesondere der konservativen Mehrheit gelegt, die jede Veränderung blockieren konnte.

Um zu verhindern, dass in dieser Weise der Bock zum Gärtner wurde, hätten wir Volkskammerabgeordneten dem Einigungsvertrag nur zustimmen dürfen, sofern in ihm die Einsetzung einer über den Parteienproporz hinausgehenden verfassunggebenden Versammlung festgeschrieben worden wäre. Dass wir ostdeutschen Amateurpolitiker diesen jämmerlichen Ausgang der zur Wendezeit so großartig begonnenen Verfassungsdiskussion aufgrund unserer Gutgläubigkeit, vgl. Richard Schröder: „Wir fallen doch nicht unter die Räuber“[57], nicht vorhergesehen haben, mag verständlich sein. Warum jedoch die westdeutsche SPD-Führung uns nicht entsprechend instruierte, bzw. nicht erahnte, dass die Konservativen daraus eine Alibiveranstaltung machen würden, bleibt mir bis heute ein Rätsel.[58]

In der offiziellen Antragsbegründung brachte ich außer den bisherigen Argumenten Folgendes zu Papier: Es handelt sich bei der Mitmenschlichkeit um jene Freiheit, die zugleich die Freiheit und Würde des anderen bedenkt. Die Frage, inwieweit bei der eigenen Persönlichkeitsentfaltung auch positiv die Entwicklungsmöglichkeiten anderer, das Wohl des Nächsten und das der zukünftigen Generationen mitzubedenken und mitzuverantworten sind, ist verfassungsrechtlich bisher kaum thematisiert worden. Zwar besitzt jeder Mensch von Anbeginn die unveräußerliche Menschenwürde. Das entsprechende Bewusstsein eigener Würde muss aber erst entwickelt werden und sich immer wieder neu gestalten. Diesen Prozess kann niemand einem anderen abnehmen. Wir können solches Wachstum jedoch durch eigenes Verhalten fördern oder behindern. So wie Freiheit nur unter grundsätzlich Gleichgestellten möglich ist, entwickelt sich auch das Bewusstsein eigener Würde aus wechselseitiger Kommunikation zwischen Menschen, die einander als Gleiche in ihrer Würde anerkennen. Wer durch Besinnung seine eigene Entwicklung gefühlsbewusst wahrnimmt und reflektiert, wird auch anderen einfühlsam begegnen und ihnen das Bewusstsein eigener Würde vermitteln. Es gilt von der Zivilisation des Habens zu einer Kultur des Mit-Seins, der Koindividualität zu gelangen.[59] Aus der Diskussion mit Isensee erwuchs die Passage: Die vorgeschlagene Formulierung ist eine Verfassungserwartung. Sie setzt keine zusätzliche Grundrechtsschranke, rührt nicht an das grundrechtlich gewährleistete Niveau der Freiheitsrechte, ist aber dennoch mehr als ein rechtlich unverbindlicher Appell. Sie äußert die ethische Erwartung an jeden Menschen, die Grundrechte verantwortlich auszuüben. Die Verfassung der Freiheit setzt ein in Freiheit zu wählendes Ethos voraus, das der Staat um der Freiheit willen nicht erzwingen kann, das aber sehr wohl von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet werden muss.[60] Der Verfassungsartikel setzt ein Zeichen für alle politisch Verantwortlichen, mit ihrem Tun Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn anzuregen und deren Entfaltungsmöglichkeiten zu begünstigen, in diesem Sinne bewusstseinsbildend zu wirken und in Zeiten knappen Geldes entsprechende Prioritäten zu setzen.

Am 4. Februar war die erste Beratung unseres Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 2a). Zu meiner Freude kündigte CDU/CSU-Obmann Jahn in seinem Redebeitrag an, dass, wenn auch juristisch kein Handlungsbedarf bestehe, man möglicherweise rechtspolitisch dem nahe treten könne und dementsprechend das Pro und Kontra in der CDU/CSU-Fraktion noch abzuwägen sei.[61]

Vogel nannte es ein Stück erfreulichen Parlamentarismus, wie durch Beharrlichkeit die Zahl derer, die dieses Anliegen unterstützen, immer breiter wurde. Es wäre ermutigend, dass das interfraktionell noch möglich sei.[62]

Matthäus-Maier (SPD) nötigte mich durch einen Zwischenruf, Pofalla (CDU) als lebendigen Beweis der potenziellen Wirkmacht unserer Verfassungsergänzung zu offenbaren, da dieser seine Unterschrift mit dem Hinweis zurückgezogen hatte, er habe sich erkundigt und erfahren, dass unser Satz verfassungsrechtlich doch etwas bewirken könne.

Meine Einbringung beendete ich mit einem Zitat des Clintonberaters Michael Lerner: „Nach der staatlichen Einheit Deutschlands komme es darauf an, die bessere Seite der deutschen Kultur aufzunehmen. Besonders müsse man sich mit Werten der Mitmenschlichkeit an die Herzen der Menschen wenden.“[63]

Freiherr von Stetten (CDU) meinte, die Mitmenschlichkeit sei bereits in unserer Verfassung „aufgeführt“[64]. Sie aufzunehmen wäre zwar kein Fehler, aber weiße Salbe.[65]

Rahardt-Vahldieck erwähnte, dass Scholz ihr gegenüber unser Anliegen durch den Begriff Mitfraulichkeit ad absurdum zu führen versuchte. Sie, durchaus eine strenge Juristin, bliebe jedoch dabei, dass die Sozialpflichtigkeit der Freiheit ausdrücklich festgehalten werden müsse.[66]

Nachdem wir mit dem Einstieg in die parlamentarische Beratung durchaus zufrieden waren, verdarb mir ein Artikel von Herrmann Lübbe, Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich, die gute Laune, der in der FAZ zum Besten gab: Unser Antrag sei lediglich die „öffentliche Demonstration guter Gesinnung“ und ein „Verfall des verfassungspolitischen Gemeinsinns.“[67] Ich hielt ihm entgegen: Es läge uns viel grundlegender, als ihm das aufgegangen sei, an der Bestimmung des menschlichen Wesens als eines mitmenschlichen und erst von daher an dem diesem Sein entsprechenden ethischen Impuls.[68]

Erfreuliches war im Bonner Generalanzeiger zu lesen, der Vogel mit den Worten zitierte: „Es wäre gut, wenn die Bürger in den neuen Ländern wenigstens eine Bestimmung im Grundgesetz finden würden, die aus ihrer Mitte stammt.“[69]

Die Stuttgarter Zeitung wertete die inzwischen 370 Antragsunterschriften als hoffnungsvolles Zeichen, die Zweidrittelmehrheit zu erreichen.[70]

Täglich kamen weitere Unterschriften hinzu. Sogar Pofalla hat dann doch noch unterschrieben.[71] Andererseits mutmaßte der Journalist Maroldt: Die Union könne alles kurz vor dem erfolgreichen Ende mit einem Verfahrenstrick stoppen: Vielleicht werden die Befürworter des Antrags aus den mitentscheidenden Ausschüssen abgezogen, vielleicht nagelt Schäuble die eigenen Leute auf einheitliches Abstimmungsverhalten fest. Das wäre zwar nicht fair, aber was heißt das schon in Bonn?[72] Auch raunte mir der damalige FDP-Fraktionsvize v zu: „Sie werden sich noch wundern, was die CDU/CSU-Führung mit ihren Leuten am Ende machen wird, um Ihren Antrag doch noch zu kippen.“ Nach unserer Pressekonferenz klopfte mir ein Journalist auf die Schulter mit den Worten: „Ich bewundere Sie, kann aber einfach nicht glauben, dass Sie das durchbekommen. Das wäre völlig gegen die ganze Richtung, die hier das Sagen hat.“

Die, welche das Sagen hatten, ließen mich durch einen offenen Brief ihres Geschäftsführers Rüttgers wissen: “Die Zurückhaltung der Verfassung in Gesinnungsfragen hat gute Gründe. Sie aufzugeben, wäre ein sicher unbeabsichtigter Schritt zum vormundschaftlichen Staat.“[73] Das saß, und ich registrierte erste Absetzbewegungen einiger CDU/CSU-Kollegen.[74] Auch hatte mir Rüttgers auf meine Frage, warum er denn meine, dass ich erfolglos bleiben würde, geantwortet: „Warten Sie erst einmal die Ausschusssitzungen ab, da werden solche Anträge in der Regel zerrieben.“ Das ließ mich aufhorchen, und so trug ich durch unzählige Telefonate Sorge, dass in den entscheidenden Ausschusssitzungen unsere Befürworter vollzählig anwesend waren. Auf diese Weise gelang es, in allen mitberatenden Ausschüssen eine Mehrheit, in zwei von ihnen sogar eine Zweidrittelmehrheit für unseren Antrag zu bekommen.[75]

Gleichzeitig diskutierten wir, ob eine Platzierung unseres Anliegens in der Präambel einer größeren Mehrheit die Zustimmung ermöglichen würde. Es gab eine befürwortende Presseerklärung von Horst Eylmann (CDU)[76] und einen Brief von Helmrich an alle Bundestagsabgeordneten mit dem mahnenden Hinweis, dass Einzel- und Gruppenegoismen unsere Gesellschaft nicht beherrschen dürfen.[77] Auch schrieb er den Aufsatz „Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in der Verfassung.“[78] Rahardt-Vahldieck schickte einen Brief an ihre Fraktionskolleginnen und -kollegen, in dem sie alle Gegenargumente ausführlich widerlegte.[79] Vor allem wendete sie sich gegen den Vorwurf der Beliebigkeit unserer Begriffe: Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn seien nicht zwei Sekundärtugenden unter vielen, sondern die Kardinaltugenden menschlicher Gemeinschaft. Ebenso wenig wie die Nächstenliebe als höchstes Gebot zufällig ins Zentrum christlicher Lehre bzw. die Brüderlichkeit in den Dreiklang der neuzeitlichen Grundwerte geraten sei, seien die modernen Pendants Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn willkürlich gesetzte Begriffe. In ihnen fasse sich zusammen, was Brüderlichkeit und Nächstenliebe bedeuten. Gerade einer christlichen Partei stünde es gut an, sich an die Spitze derer zu stellen, die dieses zentrale Wertepaar, das bereits dem Grundgesetz innewohnt, auch ausdrücklich in dasselbe hineinzuschreiben gedenken.[80]

Im Weiteren erläuterte sie den unser Anliegen charakterisierenden Begriff der Verfassungserwartung: Diese sei definiert, als das von der Verfassung angestrebte, aber nicht durch Rechtsgebot sanktionierte Leitbild des gemeinwohlgemäßen Gebrauchs der grundrechtlichen Freiheiten.[81] Sie richte sich an den Grundrechtsträger, den Bürger und die Bürgerin, und normiere dennoch kein Rechtsgebot an den Einzelnen. Sie sei, und das wäre entscheidend, keine Grundrechtsschranke. Auch der den Geboten von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn Zuwiderhandelnde bleibe in seinem Handeln unverändert durch die Freiheitsgrundrechte geschützt. Die Verfassungserwartung bedeute keinerlei neue Rechtsgrundlage für gesetzliche Einschränkungen der Freiheitsrechte. Jedes Gesetz müsse sich nach wie vor an den Grundrechten messen lassen. Erwartung und Verpflichtung seien einander ausschließende Begriffe. Erwartet werden könne nur, was in Freiheit zu erbringen sei. Es ist die Grunderkenntnis der Demokratie, dass der in Freiheit handelnde Bürger am besten zum Gemeinwohl beitrage. Dort, wo eine Verfassungserwartung nicht erfüllt werde, bedeute sie jedoch ein Gebot an den Gesetzgeber, einfachgesetzlich das Umfeld zu schaffen, das die notwendige und erwartete gemeinwohlorientierte Grundrechtsausübung begünstige.[82]

In dieser Weise waren wir hinreichend vorbereitet auf die entscheidende Sitzung am 15. Juni im federführenden Rechtsausschuss. Am gleichen Tag erschien ein geradezu bestellt wirkender, unseren Antrag ablehnender Artikel des Verfassungsrichters Grimm, den CDU/CSU-Berichterstatter Geis zu Beginn der Sitzung genüsslich an alle Ausschussmitglieder verteilen ließ.[83] Nach vielfältigen Einwendungen erklärte Grimm zum Schluss, dass die Aufnahme von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn, wenn überhaupt, dann höchstens in der Präambel denkbar wäre. Dafür hatte ich vorsorglich zwei Varianten entworfen:

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,

(a) einen jeden zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufrufend, (oder)

(b) aufgerufen zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn,

von dem Willen beseelt…..hat sich das Deutsche Volk diese Verfassung gegeben.“

Hier anknüpfend konnte der uns wohl gesonnene CDU-Vorsitzende des Rechtsaus-

schusses Eylmann seine eigene schließlich favorisierte Wendung ins Gespräch brin-

gen:

(c) „auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend,…“[84]

So wurde gegen den erbitterten Widerstand von Geis, der offensichtlich beauftragt war, ein ablehnendes Votum zustande zu bringen, auf Antrag Vogels auf ein Ausschussvotum verzichtet. Dabei war zu beobachten, wie Geis nach der misslungenen Ablehnung seine nicht vollzählig anwesenden Kollegen geradezu anfauchte, während ich aufatmen konnte. Hatten wir doch die mir von Rüttgers angekündigten Ausschusshürden alle übersprungen. Entsprechend wurde unser Antrag ohne Votum des federführenden Ausschusses zurück ins Plenum des Bundestages überwiesen.

Es folgten erste akademische Auseinandersetzungen: Am 17. Juni erschien ein Aufsatz von Christof Gramm,[85] der im Blick auf die Variante Art. 2a schrieb: Es handle sich hier um ein verfassungsrechtliches Rätsel, welches Interpretationsschübe geradezu provoziere bis hin zu einer staatsgerichteten Pflicht, die angemessenen Voraussetzungen für die Ausübung von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn auch tatsächlich optimal herzustellen. Das Grundgesetz bekäme damit unversehens einen ganz anderen Charakter. Um dieses Risiko auszuschließen, plädiere er für eine Verankerung in den Schrankenvorbehalten des Sittengesetzes.[86]

Hans Hoffmann sah in seinem Aufsatz: „Das Grundgesetz ohne Gott – aber mit Mitmenschlichkeit?“ [87] durch unser Anliegen die weltanschauliche Neutralität des Grundgesetzes gefährdet.

Im parlamentarischen Abschlussbericht der Berichterstatter vom 28.Juni war folgende erfreuliche Zusammenfassung zu lesen: „Die Einwände, die an die Normativität des Grundrechtsabschnittes und seiner Systematik anknüpfen, greifen nicht durch gegen die Verankerung der Begriffe als zweiter Nebensatz der Präambel des Grundgesetzes mit den Worten ‚auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend’, wie sie in der zweiten Lesung als Änderungsantrag vorgeschlagen werde. Dann nämlich sei klar, dass es nicht um einen vordergründigen moralischen Appell gehe, sondern um die Beschreibung jener außerrechtlichen Voraussetzungen von Recht, ohne die eine Verfassungsordnung auf Dauer keinen Bestand haben könne.“[88] In dieser Weise hoffnungsfroh gestimmt, liefen wir in die Zielgerade ein.

Damit auch jene 54 Abgeordnete, die ich erst nach Antragseinbringung gewinnen konnte, mit ihrer Unterschrift aktenkundig würden, schickte ich der Bundestagspräsidentin die entsprechende Namensliste. Sie wurde kurz vor der Abstimmung veröffentlicht.[89] In ihr waren so unterschiedliche Personen wie Graf Lambsdorff, der schon erwähnte Pofalla, Jürgen Möllemann und Vera Wollenberger verzeichnet. Insgesamt waren jetzt 418 Abgeordnete mit ihrer Unterschrift dabei. 27 weitere hatten mir mündlich ihre Zustimmung signalisiert, meinten jedoch, wie z.B. Mitglieder des CDU/CSU-Fraktionsvorstandes, dass sie sich vor der Abstimmung hierzu nicht öffentlich bekennen könnten. Damit war für mich, wenn auch knapp, die nötige Zweidrittelmehrheit von 442 Stimmen erreicht, zumal, wenn der Erfolg in Sicht, üblicherweise mit einigen Überläufern gerechnet werden darf.

Nun galt es, wie im Rechtsausschuss angekündigt, den Änderungsantrag mit der Präambelvariante einzubringen, gab es doch selbst in der SPD Abgeordnete, die überhaupt nur dieser Variante ihre Zustimmung geben wollten.[90] Es war leicht, die dafür nötige Zahl an Unterschriften zu bekommen.[91]

Am 30.6.94 kam die Stunde der Wahrheit. Sehr spät wurde als letzter Punkt zur Ergänzung des Grundgesetzes unser alter Antrag für einen neuen Artikel 2a aufgerufen. In meiner Rede bezog ich mich sogleich auf den eingereichten Änderungsantrag, um zu zeigen, dass wir die vielfältigen Diskussionen ernst genommen und unser Anliegen entsprechend modifiziert haben. Dann verwies ich auf den unlängst an einer Kölner Häuserwand entdeckten Satz des türkischen Dichters Nazim Hikmet: „Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Dem Grundgesetz als der großen Freiheitsstatue auf europäischem Boden solle mit dieser Verfassungsergänzung eine Verantwortlichkeitsstatue hinzugefügt werden. Orientierungslose Freiheit als Beliebigkeit sei nicht selten Quelle von Gewalt. Mit Freiheitsrechten allein sei kein Staat zu machen und schon gar nicht ein humaner. Es gehe durchaus um Sein oder Nichtsein unserer demokratischen Gesellschaft. Nur insofern, als dem Sein auch ein Sollen folgt, beinhalte der Antrag zugleich eine Erwartung, einen ethischen Impuls. Darum, so schloss ich, „lassen Sie uns‚ auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend, tätig werden. Helfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass am Ende des heutigen Tages beide Begriffe Teil unserer Verfassung werden. Ich appelliere an Ihr Gewissen!“[92]

Anschließend verwies der konfessionslose Christoph Schnittler auf die Bibel, welche Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn einfordere, jedoch längst nicht mehr für alle verbindlich sei. Deshalb müsse beides in unserer Verfassung verankert werden, genieße doch das Grundgesetz höchstes Ansehen. Es sei Richtschnur für staatliche und richterliche Entscheidungen und werde in jeder Schulklasse behandelt.[93]

Rahardt-Vahldieck meinte, sie könne nicht verstehen, warum in ihrer Fraktion so viel Ablehnung herrsche. Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn seien urkonservative, urchristliche Anliegen. Es müsse im Grundgesetz auch einmal gesagt werden, dass dieses Land nicht nur aus Freien und Gleichen bestehe, sondern aus Menschen, die sich um einander und um die Gemeinschaft kümmern.[94]

In den meisten westlichen Staaten, so Eylmann, würde zunehmend die kritische Frage gestellt, was unsere Demokratien eigentlich zusammenhalte, in denen individuelle Selbstverwirklichung und Gruppenegoismen überhand genommen haben. Eine Verfassung entfalte ihren Wert auch durch ihre integrative Wirkung auf die Menschen im Land.[95]

Geis in seiner Rolle als Widerpart reduzierte unser Anliegen aufs Moralische: Die kommunistischen Staaten hätten ihren Bürgerinnen und Bürgern Tugendkataloge vorgeschrieben und von ihnen verlangt, dass sie bestimmte sozialistische Gebote einhalten. Die Menschen hätten darauf mit Revolutionen geantwortet. Wir wollen, dass sie Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit üben, aber nicht von Staats wegen.[96]

Schmude erwiderte: „Es geht, Herr Geis, nicht darum, hier etwas vorzuschreiben, sondern an die Grundlage unseres friedlichen, gemeinsamen und gedeihlichen Zusammenlebens zu erinnern … Ich sage: Es ist kein Zufall, dass einer unserer östlichen Kollegen diese Lücke in den ausdrücklichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes erkannt und als unerträglich empfunden hat.“[97]

Wenig später kam die erste spannende Abstimmung. Denn obwohl wir für den Änderungsantrag nur eine einfache Mehrheit benötigten, wollte die CDU/CSU-Führung diesen verhindern. Sie befürchtete, dass der Präambellösung mehr CDU/CSU-Mitglieder zustimmen könnten, als dem ursprünglichen Antrag für einen neuen Art. 2a. Unser Änderungsantrag wurde jedoch mit großer Mehrheit angenommen.

Es gab aber auch Abgeordnete, die nur einem Art. 2a zustimmen wollten,[98] so wie Helmrich immer mehr wollte, als die aus seiner Sicht weniger wirksame Präambelvariante. Insofern konnten wir uns über einen Stimmenzuwachs aufgrund der neuen Antragsform nicht sicher sein.

Als am Freitag Nachmittag, da viele Kollegen längst auf der Heimreise sein wollten, es nach dritter Lesung zur endgültigen Abstimmung kam, stand Rüttgers mit strenger Miene die Nein-Stimmkarte hochhaltend vor der Urne, um an den Marschbefehl seiner Fraktionsführung zu erinnern. Den sich für einen Moment bei mir einstellenden Gedanken, mich mit erhobener Ja-Stimmkarte daneben zu stellen, verwarf ich als würdelos. Die namentliche Abstimmung ergab 344 Ja-Stimmen, 261 Nein-Stimmen und 22 Enthaltungen, sowie 35 Abgeordnete, die der Abstimmung fern geblieben waren.[99] Damit erhielt unser Antrag wie einst in der GVK zwar eine deutliche Mehrheit, jedoch nicht die nötige Zweidrittelmehrheit.

„Sie haben halt so ihre Methoden“, hatte mich FDP-Fraktionsvize Weng vorgewarnt. Dennoch war es meine größte politische Enttäuschung, insbesondere im Blick auf die offensichtlich realitätsferne Vorstellung vom seinem Gewissen verpflichteten Abgeordneten. Denn den Listen zur namentlichen Abstimmung war zu entnehmen, dass 60 CDU/CSU-Abgeordnete, die den Antrag einst selber als Einbringende unterschrieben hatten, unter dem Druck ihrer Fraktionsführung entweder der Abstimmung fern blieben bzw. sich der Stimme enthielten oder sogar gegen ihre eigene Unterschrift stimmten.[100] Als kleiner Trost waren die CDU-Abgeordneten Kors und Austermann bei den Ja-Stimmen zu entdecken, obwohl sie nach Rüttgers Brief von ihrer Unterschrift zurückgetreten waren.

Für mich war das Scheitern unserer aufwendigen Bemühung ein deprimierender Start in die Parlamentsferien. Zur Veröffentlichung einer am 4. Juli verfassten Presseerklärung unter dem Motto, „Der Weg ist das Ziel“ [101], hatte ich nicht mehr die Kraft.

Mitte August versuchte Jochen Schweitzer, mein Referent aus den Zeiten der letzten frei gewählten Volkskammer, als ich dort Vorsitzender des Bildungsausschusses war, mich mit dem neuen Bremer Schulgesetz zu trösten. Darin hatte er die Mitmenschlichkeit als Bildungs- und Erziehungsziel verankern können.

Neue Hoffnung keimte erst, als ich erfuhr, Helmrich plane, unseren alten Antrag Art. 2a noch einmal beim Bundesrat auf die Tagesordnung zu setzen, um über den Vermittlungsausschuss eine erneute Abstimmung im Bundestag zu erzwingen. Die SPD-geführten Länder hatten dies erst einmal abgelehnt, wie das bei Anträgen der gegnerischen Seite leider üblich ist. Also versuchte ich in den Sommerferien, die SPD-Länder für Helmrichs Plan zu gewinnen.[102] Etliche Telefonate, vor allem mit Justizminister Bräutigam und Ministerpräsident Höppner, führten dazu, dass außer Mecklenburg-Vorpommern auch Brandenburg und Sachsen-Anhalt einen entsprechenden Antrag an die Länderkammer stellten.[103]

In der Bundesratssitzung am 26.August setzte sich SPD-Fraktionsführer Scharping für die Sache ein.[104] Helmrich brachte zusätzlich seinen alten Gedanken einer Verortung beim Sittengesetz, Art.2, ins Gespräch:

„..das Sittengesetz, das insbesondere in Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn seinen Ausdruck findet.“

Am Ende der Debatte wurde der Antrag an den Vermittlungsausschuss überwiesen. Dort gelang es Helmrich in der Sitzung am 1. September tatsächlich, die Mehrheit auf seine Seite zu bekommen. So kam entsprechend Artikel 77 Grundgesetz der Antrag am 6. September als Drucksache 12/8423 erneut zur Abstimmung in den Bundestag.

Zuvor hatte ich am 2. September in einer Presseerklärung an jene 116 CDU/CSU-Abgeordneten appelliert, welche einst unseren gleichlautenden Antrag unterschrieben hatten, jetzt zu ihrer Unterschrift zu stehen.[105] Außerdem war ein Redebeitrag vorbereitet, um jene Kollegen zurückzugewinnen, die wegen unseres Wechsels zur Präambel abgesprungen waren. Jene, die allein der Präambel zugeneigt waren, wollte ich bitten, ihre Bedenken angesichts dieser letzten Chance zurückzustellen. SPD-Geschäftsführer Struck gewährte mir jedoch keine Gelegenheit, dieses im Plenum vorzutragen, so dass ich meine Rede lediglich zu Protokoll geben konnte.[106] Als ich ihm vorschlug, wir sollten durch Antrag auf namentliche Abstimmung die CDU/CSU zu nageln versuchen, raunte er mir zu: „Da kannst du auch versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln.“ So war zu spüren, dass meine eigene Fraktionsführung den Antrag bereits ad acta gelegt hatte. Sie hätten im Vermittlungsausschuss ja auch darauf bestehen können, ihn mit in das Gesamtpaket der mehrheitsfähigen Verfassungsänderungen aufzunehmen, um das Ganze, wie üblich, dann im Parlament nur noch ‚durchzuwinken’. Unser Obmann Vogel wollte jedoch nicht riskieren, dass das Wenige, was er der CDU/CSU überhaupt abringen konnte, insbesondere die Sache mit dem Umweltschutz Art. 20 a durch eine solche Aktion gefährdet werden könnte. Ich glaube freilich nicht, dass Scholz nur unseres Antrags wegen das Ganze hätte platzen lassen können. Freilich wäre mit dieser Paketlösung ein gewisses Restrisiko verbunden gewesen, welches einzugehen meiner Fraktionsführung unsere Sache offenbar nicht Wert gewesen ist.

So kam es zur letzten, diesmal leider nur offenen Abstimmung, bei der nach Einschätzung des leitenden Präsidiumsmitglieds für unseren Antrag zwar eine große Mehrheit, jedoch wiederum nicht die nötige Zweidrittelmehrheit zustande kam. Damit war zur Bemühung um Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Deutschen Bundestag der Vorhang endgültig gefallen, und ich erinnere mich, wie eine CDU-Mitstreiterin mir bedauernd zuwinkte.

Wenige Jahre später entdecke ich, wie eingangs erwähnt, in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union die Auferstehung unserer alten Verfassungsergänzung im neuen Gewand und das europaweit! Offensichtlich war unser Bemühen nicht auf Deutschland begrenzt, sondern ein in Europa heraufziehendes Anliegen, welches bei uns nur etwas früher zur Verwirklichung drängte. So scheint auch die gesellschaftliche Entwicklung über geheimnisvoll-inhärente Notwendigkeiten, wie in der biologischen Evolution entdeckt, zu immer wieder gleichen Ergebnissen zu gelangen.[107] Danach kann die Lösung eines Problems, die dem im Kosmos erreichbaren Optimum entspricht, zwar hinausgezögert, aber auf Dauer gar nicht verhindert werden. Insofern zeigt die europäische Entwicklung der Grundrechte, dass wir im Blick auf das, was verfassungsrechtlich anstand, das richtige Gespür hatten. Lediglich die konkreten politischen Verhältnisse in Gestalt der Bonner konservativen Bundestagsmehrheit mit ihrem puristischen Verfassungsjuristen Scholz als GVK-Vorsitzenden haben die Lösung noch einmal verzögern können, um bald danach wie im Handstreich von der europäischen Verfassungsentwicklung überrollt zu werden. Schade nur für Deutschland, dem wieder einmal andere auf die Sprünge helfen mussten, obwohl die Sache hier schon Jahre früher auf der Tagesordnung stand.

Die von Rüttgers gegen uns vorgebrachte Gefahr, mit unserer Verfassungsergänzung einen vormundschaftlichen Staat zu begünstigen, wurde in anderer Form auch im europäischen Grundwertekonvent ausführlich diskutiert.[108] Da man dort jedoch nicht in der westdeutschen, konservativen Angst befangen war, hier könnte Ostdeutsch-Sozialistisches in die Verfassung geraten, wurde entsprechend dem Grundsatz, abusus non tollit usum[109], Neues gewagt.

Angesichts dessen ist zu erwarten, dass ähnliche ‚Auferstehungswunder’ sich auch im Blick auf andere von uns vergeblich gewünschte Verfassungsergänzungen ereignen werden. Man denke da vor allem an den Antrag zur Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene.[110] Und so erinnerte ich schon damals im ‚Bonner Wasserwerk’ an das hoffnungsfrohe Lied: [111]

„Am Grunde der Moldau wandern die Steine.

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag…“[112]

In solchen Texten ebenso wie in jener naturwissenschaftlichen Beobachtung spiegelt sich die Hoffnung unserer abendländischen Kultur, dass die Zukunft in Gottes guten Händen liegt. Er ist uns zuliebe zwar bereit, manche Um- und Abwege in Geduld ein Stück weit mitzugehen. Das Ziel seiner Schöpfung wird er jedoch niemals aus den Augen verlieren.

Dennoch, nichts kommt von allein. Menschen müssen sich finden, die das, was ansteht, erkennen und umsetzen. Darum, wer immer unter der Leitung von Roman Herzog im Grundwertekonvent unsere alte Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Verfassungsrang zu europäischem Leben erweckte – ich danke ihm![113]


[1] Überarbeiteter Aufsatz des gleichnamigen Beitrags in: Erich Fischer/Werner Künzel (Hrsg.), Verfassungsdiskussion und Verfassungsgebung 1990-1994 in Deutschland, 3 Bd., Schkeuditz 2005, Bd.1, S.105-124.

[2] Feierlich proklamiert am 7.12.2000 anlässlich des Europäischen Rates in Nizza durch den Rat, die Kommission und das Europäische Parlament.

[3] Unterzeichnet auf der Regierungskonferenz des Europäischen Rates am 29.10.2004 in Rom von 25 EU-Staaten sowie Rumänien, Bulgarien und der Türkei. Der Prozess der Ratifizierung ist durch die ablehnenden Volksentscheide in Frankreich und den Niederlanden jedoch vorerst ins Stocken geraten.

[4] zitiert nach der vom Dt. Bundestag am 12.5.2005 ratifizierten Fassung des Vertrages über eine Verfassung für Europa, BT-Drs. 15/4900, S. 23. In früheren Fassungen steht an Stelle des Wortes Verantwortung Verantwortlichkeiten, s. Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl EG C 364/1 v. 18.12.2000. Den Hinweis auf diese Veränderung verdanke ich Uwe Holtz, Bonn, der mir mitteilte, dass „im Engl., Frz., Span., It. u. Schwedischen lediglich von ‚anderen (Menschen)’ die Rede ist: Enjoyment of these rights entails responsibilities and duties with regard to other persons, …à l’égard d’autrui; de los demás; degli altri; andra människor. Aber immerhin im Niederländischen tauchen die Mitmenschen auf: „Het genot van deze rechten behelst verantwoordelijkheden en plichten jegens de medemens, alsmede jegens de mensengemeenschap en de toekomstige generaties.“

[5] Dt. Bundestag, 14. Wahlperiode, 115. Sitzung, PlPr 14/3387 v. 7.7.2000.

[6] Dabei wollten wir Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn nicht wie hier als Pflicht, sondern als Verfassungserwartung zum Tragen bringen.

[7] 1967-1973, geprägt von den Studentenpfarrern Rudolf Schulze und Wolf Krötke.

[8] Bezeichnend für die Marginalisierung des Einflusses ostdeutscher Politiker im Zusammenhang mit den Verfassungsfragen ist die Tatsache, dass in der Kommission, die die verfassungsrelevanten Aspekte der Einheit von Ost- und Westdeutschland zu verhandeln hatte, die regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP mit keinem einzigen Ostdeutschen als ordentlichem Mitglied vertreten war. Auch die SPD-Fraktion hatte sich mit nur zwei Ostdeutschen, Thierse und Elmer, unter den von ihr zu entsendenden elf Mitgliedern nicht gerade hervorgetan. Wäre es nach dem Fraktionsvorstand gegangen, wäre sogar nur Thierse dabei gewesen. Er, der als unser Vordermann dafür zuständig gewesen wäre, hat sich leider auch nicht dafür eingesetzt, dass außer ihm weitere Ostdeutsche als ordentliche Mitglieder in die Verfassungskommission gelangen. Die SPD-Frauen waren mächtig verärgert, als ich, auf eigene Faust kandidierend, von der Fraktion eine Stimme mehr als die von ihnen vorgeschlagene Edith Nihuis erhielt. Bei der CDU/CSU war erst unter den Stellvertretern Reichenbach als einziger Ostdeutscher zu entdecken. Als deutlich wurde, dass es dieser Kommission sowieso nicht erlaubt sein würde, irgendetwas Wesentliches zu bewegen, und Rüttgers ausschied, rückte der westdeutsche Stavenhagen nach. Nur weil der zwei Monate später verstarb, durfte Reichenbach ordentliches Mitglied werden.

[9] Herausgeber einer dt. Übersetzung des Hauptwerkes des frz. Motivationspsychologen Paul Diel, Bd. 1 Psychologie de la Motivation, Paris 1947, Bd. 2 La Divinité, Paris 1971, dt. Bd. 1 Motivationspsychologie, Bd.2 Göttlichkeit, Berlin 1989. Breuer entwickelte damals im Selbstverlag ‚Edition Weltkultur’ seine sogenannte ‚Biosophie’ mit sechs Schriften zur Kulturstaatlichkeit sowie weitreichende Vorschläge zur Neuordnung der deutschen Länder.

[10] K. Elmer, Der Häresiebegriff Karl Barths im Zusammenhang seiner theologischen Erkenntnislehre, Diss. theol. Halle/S., 13.10.1981.

[11] K. Barth, KD III/2, S. 384 („Wer behauptet, der Mensch sei ein Einzelwesen, der sei verdammt!“)

[12] Brief im eigenen Archiv.

[13] Präambel: „Im Bewußtsein,…dem Frieden, in wahrhaftiger Verantwortung für die eine Welt und

dem Leben in Gerechtigkeit zu dienen, hat sich ….“

Art. 2 (1) „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht … gegen

das Sittengesetz, oder die Mitmenschlichkeit verstößt.“

Art. 7 (2) „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. Grundanliegen ist Erziehung zu Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit.“

(3) „Bildung durch Besinnung auf wahrhaftige Mitmenschlichkeit erfährt besondere

Förderung.“

Art. 20 (1) „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer, sozialer und humaner Bundes-

staat.“

Dem lag in Art. 2(1) der Gedanke zugrunde: So wie „das Eigentum sozial verpflichtet, verpflichtet die Persönlichkeitsentfaltung human„, und durch Art. 20(1) „wäre die Kultur verfassungsmäßig als Ge-staltungsraum für Mitmenschlichkeit bestimmt“, die vom „Bemühen um weitestgehendes gegenseitiges Verständnis lebt.“ (Im eigenen Archiv).

[14] Verfassungsdiskussion …(s. oben, Anm.1) Bd. 3, Dokumentenband 2, im Folgenden: Dok 2.

[15] Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in Folge der deutschen Einheit / 12. Dt. Bundestag. Hrsg.: Dt. Bundestag, Ref. Öffentlichkeit, Bonn 1996 (Zur Sache 2/96), Bd. 2: Anhörungen und Berichterstattergespräche (im Folgenden: Materialien 2) S. 115.

[16] AaO, S.123.

[17] K. Elmer, Denken mit dem Herzen, Ostdeutsche Forderung: Mitmenschlichkeit ins Grundgesetz. In: Die Zeit v. 2.4.1993, S. 14, s. Dok 2.

[18] Der Zeit-Redakteur brachte dies auf den Begriff „Soziabilität“. Von ihm stammt auch die Überschrift: „Denken mit dem Herzen“, aaO.

[19] Brief im eigenen Archiv.

[20] Vgl. zum Folgenden: Materialien 1, S. 909 ff.

[21] Die moderne Spieltheorie zeigt, dass rein egoistische Akteure nicht in der Lage wären, in einer Firma zu kooperieren. Zur Kooperation braucht es eines gewissen Maßes an Altruismus und Gegenseitigkeit, ohne die selbst die Wirtschaft nicht auskommt, wenn sie funktionieren soll. Diesen Hinweis verdanke ich Ottmar Edenhofer, Potsdam, vgl. Samuel Bowles, Microeconomics: Behavior, institutions and evolution, Princeton 2004.

[22] Verfassung der freien Hansestadt Hamburg v. 6.6.1952.

[23] Saarbrücker Erklärung zu Toleranz und Solidarität vom 8.3.1993.

[24] Materialien 1, S. 915.

[25] Ein ähnliches Votum erhielt ich aus Frankreich mit dem brieflichen Hinweis, dass der Begriff kaum in andere Sprachen zu übersetzen sei. (Im eigenen Archiv).

[26] Materialien 1, S. 916.

[27] AaO, S. 918f. Ich bin seinem Schritt nicht gefolgt, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben wollte, mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Mitmenschlichkeit ostdeutsches Selbstbewusstsein zu stärken, vgl. aaO, S. 921.

[28] AaO, S. 919.

[29] Vgl. die Stärkung der Frauenrechte und weitere Antidiskriminierungsparagrafen, denen sich selbst die Konservativen in der Verfassungskommission nicht gänzlich verschließen konnten, Dok 2.

[30] Es war der Sekretär der GVK, Eckart Busch, der mein Anliegen in dieser Weise auf den die Sache treffenden Begriff brachte.

[31] Dafür wird die Brüderlichkeit, wenn auch rechtlich unverbindlich, in unserer National- und Europahymne besungen: „… brüderlich mit Herz und Hand.“ „Alle Menschen werden Brüder,…“

[32] Verfassungsentwurf des Runden Tisches, Berlin, April 1990, Art. 1 (2).

[33] Der Runde Tisch räumt m.E. der Gleichheit den höchsten Stellenwert ein, da diese in Art.1 direkt neben der Würde ihren Platz erhält.

[34] Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung, Baden Baden 1991, S. 68, Präambel u. Art. 1 (1).

[35] AaO, S. 69, Art. 2 (3).

[36] Materialien 2, S. 809.

[37] So die Systematik des Berichts der GVK, 4. Kapitel, Materialien 1, S. 2.

[38] Materialien 2, S. 808.

[39] AaO, S. 810.

[40] AaO, S. 812.

[41] In einem Seitengespräch hatte mir Scholz, auch wenn er das Ganze nicht befürworte, Ähnliches zu bedenken gegeben.

[42] AaO, S. 811.

[43] Vgl. Materialien 1, S. 1159 f.

[44] Ostdeutscher Buchtitel.

[45] Materialien 1, S. 1119 f.

[46] Eine Formulierung des Verfassungsgerichtspräsidenten Zeidler.

[47] AaO, S. 1122.

[48] AaO, S. 1123.

[49] Sozialdemokratische Partei in der DDR, gegründet am 7. Oktober 1989 in Schwante, nördlich von Berlin, vgl. K. Elmer, Auf den Anfang kommt es an! In: Die Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte, Februar 1991, S. 136-140.

[50]Materialien 1, S.1125.

[51] Th. Kröter, Tagesspiegel v. 4.7.1993, S. 2.

[52] J. Isensee, Mit blauem Auge davongekommen – das Grundgesetz, Neue Juristische Wochenschrift, 1993, H. 40, S. 2583-2587.

[53] Vgl. sein andersartiges Votum bei der 2. Anhörung: “Das ist Thema der Landesverfassungen.“ Materialien 2, S. 123.

[54] vom 16.-18.11.1993.

[55] Fraktionsgeschäftsführer Struck gab damals zum Besten: „Warum haben wir den Elmer eigentlich nicht für unsere Dinge eingespannt?“

[56] Dok 2.

[57] Materialien 1, S.1182.

[58] Dazu schrieb mir Vogel: Nach dem mit dem Volkskammerwahlergebnis sich abzeichnenden Beitritt nach Art. 23 war „für eine verfassunggebende Versammlung politisch und dann schließlich auch rechtlich kein Raum mehr,“ Brief v. 23.3.2005, (im eigenen Archiv). Anders die SPD-Rechtsexpertin Herta Däubler-Gmelin, die mit mir einig war, dass eine gemeinsam zu erarbeitende gesamtdeutsche Verfassung im Bereich des Möglichen lag. Die Volkskammer-CDU war wegen der notwendigen Zweidrittelmehrheit für den Beitrittsbeschluss ein letztes Mal auf unsere SPD-Stimmen angewiesen. Wir hätten also unsere Zustimmung durchaus davon abhängig machen können, dass im Einigungsvertrag nicht nur ein paar zu behandelnde Verfassungsfragen, sondern die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für die Zeit nach dem Beitritt festgeschrieben wird. Dies durchzusetzen nicht einmal probiert zu haben, bereue ich bis heute.

[59] BT-Drs. 12/6708, S 4. Einen Teil dieser Ausführungen verdanke ich meiner Bundestagsmitarbeiterin Erika Rauschenbusch. Den Begriff Koindividualität entnahm ich einem Brief von Tilmann Evers. Außerdem half bei den Formulierungen mein zeitweiliger Mitarbeiter Stefan Grönebaum, welcher meinte, er wüsste nicht recht, worüber er sich mehr wundern solle, über meine Naivität im Blick auf die Tücken des Gesetzgebungsverfahrens oder über meinen hartnäckigen Optimismus, mit dem ich die Sache vorantreiben würde.

[60] AaO, S. 6.

[61] Dt. Bundestag, 12.Wahlperiode, 209. Sitzung, Sp. 18108.

[62] AaO, Sp. 18096.

[63] AaO, Sp. 18139.

[64] Ich frage mich bis heute, wo im Grundgesetz das stehen soll. Gemeint kann offensichtlich nur gewesen sein, dass die Mitmenschlichkeit im Würdebegriff enthalten sei.

[65] AaO, Sp. 18140.

[66] AaO, Sp. 18143.

[67] FAZ v. 14.2.1994.

[68] Mein Leserbrief in der FAZ v. 24.2.1994.

[69] Mitmenschlichkeit ins Grundgesetz, General-Anzeiger v. 5.3.1994.

[70] Sten Martenson, Mitmenschlichkeit soll Verfassungsrang erhalten, Stuttgarter Zeitung v. 5.3.1994.

[71] Dt. Bundestag, 12. Wahlperiode, 238. Sitzung, S. 21043, Anlage 3, was ihn freilich nicht hinderte, bei der Endabstimmung gegen seine Unterschrift zu stimmen, S. 21099.

[72] L. Maroldt, Auf der letzten Karte stand ‘Ost’, Neue Zeit v. 11.3.1994.

[73] Offener Brief von Jürgen Rüttgers an Konrad Elmer vom 27.5.1994, Dok 2.

[74] Z.B. teilte mir ein CDU-Abgeordneter unter Tränen mit, dass er, da er zu Hause auf einen Listenplatz angewiesen sei, mich nun leider nicht mehr unterstützen könne.

[75] Vgl. die entsprechende Presseerklärung vom 13.4.1994.

[76] Presseerklärung vom 3.6.1994, Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in die Verfassung.

[77] Der Minister für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Mecklenburg-Vorpommern, Pressestelle V.i.s.d.P. Michael Bauer, Presseinformation v. 8.6.94, 64/1994: Aufruf von Minister Herbert Helmrich an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, “Mitmenschlichkeit“ und „Gemeinsinn“ in die Verfassung aufzunehmen.

[78] trend, II. Quartal ´94, S. 6-12.

[79] Rahardt-Vahldieck, Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn ins Grundgesetz, Brief vom 13.6.1994, Dok 2.

[80] AaO, S. 4.

[81] So schon Isensee, noch bevor unser Vorschlag aktuell wurde, im Handbuch des Staatsrechts, Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Heidelberg 1992, Bd. 3, Rn. 163.

[82] Rahardt-Vahldieck, AaO, S. 3.

[83] Was zuviel ist, ist von Übel. Wie man beim besten Willen eine Verfassung verderben kann. FAZ v. 15.6.1994, S. 37.

[84] Dok 2.

[85] Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn als Verfassungsrechtssatz, JZ 49 (1994), S. 611-618.

[86] AaO, S.618.

[87] Zeitschrift für Rechtspolitik, 27 (1994), S. 215-219.

[88] BT-Drs. 12/8165, Sp. 1227.

[89] Dt. Bundestag , aaO, S. 21043, Anl. 3, Dok 2.

[90] Z.B. Brigitte Schulte.

[91] BT-Drs. 12/8171 v. 29.6.1994 mit 55 Unterschriften.

[92] Dt. Bundestag, aaO, Sp. 20994f.

[93] AaO, Sp. 20998.

[94] AaO, Sp. 21011.

[95] AaO, Sp. 21014.

[96] AaO, Sp. 21017

[97] AaO, Sp. 21019. Schmudes positives Votum konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich meine Hoffnung auf ernsthafte Unterstützung von Seiten der Kirche nicht erfüllte. Bei einem von Bischof Huber initiierten Treffen mit den im Zuge der Wende polisch tätig gewordenen Pfarrern habe ich ihn vergeblich um Unterstützung gebeten. Offenbar gehören gerade die Kirchenjuristen, s. o. Heitmann bei Anm. 47, eher zu den Puristen in Sachen Verfassungsgebung.

[98] Z.B. Schockenhoff (CDU).

[99] Dt. Bundestag, aaO, S. 21097ff, Dok 2.

[100] Vgl. die Unterschriften auf unserem Antrag (zuzüglich der nachgereichten Unterschriften, aaO, S. 21043, Anlage 3) mit den namentlich aufgeführten Nein-Stimmen und den Enthaltungen, S. 21098ff, Dok 2.

[101] Dok 2.

[102] Z.B. mit einen Brief an Voscherau vom 23.8.1994, im eigenen Archiv.

[103] Darüber hinaus hatte ich mit fast allen SPD-Ländervertretern, sowie denen der CDU von Thüringen und Sachsen, insbesondere mit meinem früheren Studentenpfarrerkollegen und damaligen Sächsischen Innenminister Heinz Eggert in jenen Tagen viel zu telefonieren.

[104] Bundesrat, 673. Sitzung, Sp. 474.

[105] K. Elmer, Vermittlungsausschuss für Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn, Bonn, 2.9.1994.

[106] Dt. Bundestag, 12.Wahlperiode, 241. Sitzung, Sp. 21396f.

[107] “Delfine waren uns überlegen“, Spiegel-Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Conway Morris, Spiegel v. 29.9.2003, S. 174-182. Z.B.: “Das Linsenauge wurde sieben mal unabhängig voneinander entwickelt.“(S. 174), vgl. www.spiegel.de/dossiers.

[108] Vgl. Jürgen Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden 2003, S. 40, Rn 48.

[109] „Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf.“

[110] Materialien 3, S. 980 u. 1000 ff. Es ist ein Skandal, dass selbst 15 Jahre nach der Einheit noch immer keine Bundestagsmehrheit zustande kommt, die den nach Art. 146 vorgesehenen Volksentscheid über eine neue Verfassung regelt; eine Verfassung, die dann hoffentlich auch generell den Volksentscheid auf Bundesebene ermöglicht.

[111] Materialien 1, S. 772

[112] Text: Bertolt Brecht, Musik: Hanns Eisler.

[113] Erste Recherchen führten zu dem Europaabgeordneten Peter Mombaur, der mir seinen Aufsatz zusandte: Bürgerrechte und Bürgerpflichten, in: Stadt und Gemeinde, 11/1996, S. 407-417; und der mir erklärte, er habe bereits in der 2. Sitzung des europäischen Grundwertekonvents am 1.2.2000 darauf hingewiesen, dass es keine Rechte ohne Pflichten gäbe. Außerdem war der Weg zur Aufnahme von den Grundrechten korrespondierenden individuellen Grundpflichten durch die neuen Verfassungen von Portugal (1976) und Spanien (1978) geebnet, vgl. Jürgen Meyer, aaO, S. 41. Jürgen Meyer hatte, wie er mir berichtete, unser gemeinsames Anliegen aus der GVK natürlich präsent. Es sei im europäischen Grundwertekonvent jedoch verabredet gewesen, auf einzelne nationale Verfassungstexte und Diskussionen keinen Bezug zu nehmen. Insofern bleibt abzuwarten, ob er zum Einfluss unserer Bonner Verfassungsdiskussion auf seine Gedanken und sein Wirken bei der Erarbeitung der Europäischen Verfassung einmal ausdrücklich Stellung nimmt.

Zu den verschiedenen Präambelentwürfen und diesbezüglichen Diskussionen im Grundwertekonvent vgl. aaO, S. 9 ff. sowie Bernsdorff / Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, Baden-Baden 2002, S. 244 ff. Danach enthielt der von Jürgen Meyer am 6.1.2000 vorgelegte erste Entwurf einer Präambel zwar noch keine Pflichten, jedoch bereits die Solidarität im Begriff der Sozialstaatlichkeit, Dokument CONTRIB 2. Im zweiten Präambelentwurf, den die drei Italiener Rodotà, Manzella und Paciotti vorlegten, zu dem sie die Vorschläge zahlreicher Konventskolleginnen und -kollegen erbeten und eingearbeitet hatten, stand folgende, unser Anliegen der Sache nach andeutende Wendung: „solidarity amongst individuals, generations and peoples“, Dokument CONTRIB 175. In der Konventssitzung am 12.5.2000 erklärten mehrere Konventsmitglieder, dass auch Pflichten der Bürger in der Präambel angesprochen werden sollten. Insbesondere der Franzose Haenel setzte sich hierfür mit Nachdruck ein. Er verwies auf die Charta-Debatte des französichen Senats, in der sich die meisten Redner für seinen entsprechenden Vorschlag ausgesprochen hätten. Zusammen mit dem Belgier Dehouse betonte er, es gäbe „keine Freiheit ohne Pflichten“, Jürgen Meyer, aaO, S. 14. Auch Manzella und der Brite Goldsmith unterstützten das Anliegen, Bernsdorff / Borowsky, aaO, S. 246 f. Bereits im ersten vom Präsidium vorgelegten und vermutlich von Roman Herzog formulierten Präambelentwurf v. 14.7.2000 heißt es: „Der Genuß dieser Rechte ist mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft verbunden“, Dokument CONVENT 43. Dem Wunsch von Jürgen Meyer und anderen, den Umweltschutz in die Präambel aufzunehmen, verdanken wir die Ergänzung: „und den künftigen Generationen“, Jürgen Meyer, aaO, S. 17.

9. Mai 2009

Auf den Anfang kommt es an!

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Konrad Elmer-Herzig

Auf den Anfang kommt es an! 1

Erinnerungen an die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR – SDP

am 7. Oktober 1989 in Schwante

1968 hatte ich den „Prager Frühling“ zusammen mit meinem Studienfreund Oskar Schmidt auf einer Tramptour durch die Tschechoslowakei begeistert miterlebt.

Auf der Tschechischen Seite der Grenze angekommen zeige ich meine erfolgreich durch den Zoll geschmuggelte deutsche Fahne, mit der man ohne DDR-Emblem sehr viel erfolgreicher im „sozialistischen Ausland“ trampen konnte.

Nach der Zerschlagung unserer politischen Hoffnung durch die Truppen des Warschauer Pakts warteten wir sehnsüchtig auf einen „Prager Frühling“ in Moskau. Dann end­lich, so unsere Vorstellung, könnte die erhoffte Demokratisierung des Sozialismus vielleicht doch noch gelingen.

Während meiner Zeit als Studentenpfarrer der Evangelischen Studentengemeinde in Ost-Berlin (ESG, 1982 bis Sommer 1989) stiegen mit den Refor­men Gorbatschows unsere diesbezüglichen Erwar­tungen. Vielerorts kam es zu politi­schen Veränderungen, nur nicht in der DDR. Im September 1987 gelang uns die erste widerständige Demonstration im Rahmen des Olof Palme Friedensmarsches. Wir hatten sie getarnt als Friedensprozession von der Zions- zur Eliaskirche. Meine Studenten trugen Plakate mit Aufschriften wie: „Frieden ohne Grenzen“, „Schwerter zu Pflugscharen“, „Für einen Zivilen Ersatzdienst“ und Ähnliches. Als wir damals mit Kerzen in der Hand auf der Schönhauser Allee sangen: „Die Gedanken sind frei“, dachte ich zum ersten Mal: Wenn es gelänge diesen Demonstrationszug zum Alexanderplatz umzulenken und sich die Bevölkerung anschließen würde, dann könnte die Revolution beginnen.

Demonstrationen in Karlsbad während der Invasion des Warschauer Pakts

Als Studentenpfarrer hatte ich Kontakt zu verschiedenen op­positionellen Gruppen. Dort wurden Missstände angeprangert und Forderun­gen aufgestellt. Was mir fehlte, war ein Konzept zur Durchsetzung dieser Vorstellungen. Wie kann die SED entmachtet werden, und in welchen demokratischen Strukturen wollen wir zukünftig leben? Intensive politi­sche Diskussionen erlebte ich im Freundeskreis um Jens Reich und im Philosophie­kreis meiner Studentengemeinde. Dort war Richard Schröder häufiger Gast und brachte Texte von Ro­bert Spaemann und Hannah Arendt mit. Er plädierte dafür, als ersten Reformschritt den Kommunen die Finanzhoheit zurückzu­geben. Außerdem versuchte er, unsere Bedenken gegenüber dem Großkapital zu zerstreuen. Der Profit würde nur zu einem geringen Teil in den privaten Verbrauch der An­teilseigner fließen. Zum größten Teil käme er der Erweiterung der Produktion zu­gute. Auf der anderen Seite brauche man im Gegensatz zur marxistischen Ideologie auch in Zu­kunft einen starken Staat, der die Naturwüchsigkeit der Wirtschaft in die richtigen Bahnen lenkt.

Im Februar 1989 war ich von meinem Kollegen Martin Hofmeister in sein Büro, zu einer konspirativen Diskussionsrunde mit Eckhardt Barthel und weiteren Schöneberger SPD-Leuten eingeladen. Beim hektischen Auseinandergehen, da die Westberliner bis Mitternacht die DDR verlassen mussten, äußerte ich das erste Mal: „Wir müssen eine Partei gründen.“2 Dass es sich dabei um eine sozialdemokratische handeln würde, lag nicht nur wegen der Gesprächspartner nahe. Schon immer sympathisierten wir mit der Partei Willy Brandts, dessen neue Ostpolitik wir begrüßten. Auch hatte sich mein Vater nach dem Krieg in der SPD engagiert, bis er nach der Zwangsvereinigung aus der SED geworfen wurde. Sein Vergehen bestand darin, dass er als thüringischer Forstmeister um einer nachhaltigen Forstwirtschaft willen gegen die die Waldverjüngung ruinierende Waldweide der Einwohner mit ihren Schafen und Ziegen opponiert hatte. Das wurde als unproletarisches Verhalten ausgelegt und kostete ihm die bereits in Aussicht gestellte Professur an der forstlichen Hochschule in Eberswalde. Im Zusammenhang des Mauerbaus wurden wir 1961 aus dem Grenzgebiet im Südharz zwangsweise umgesiedelt, nachdem mein Vater als Naturschutzbeauftragter es gewagt hatte, an den dortigen General zu schreiben, ob es nicht möglich wäre, im Naturschutzgebiet einen nur halb so breiten Grenzstreifen in die Wälder zu schlagen. Solche familiären Erfahrungen haben mich nachhaltig staatskritisch geprägt. Ebenso prägte mich das ökologische Engagement meines Vaters, der im Alter darauf hinweisen konnte, dass jeder 3. Baum im Südharz nur deshalb dort noch steht, weil es ihm zu DDR-Zeiten gelungen war, diesen Laubwald als Naturschutzgebiet einzustufen, ein Status, der mit der Deutschen Einheit den Lobbyisten der Kalkindustrie zum Opfer fiel.

Plakate, wie man sie am Tag der Invasion überall in der Tschechoslowakai fotografieren konnte.

Mit großem Interesse las ich 1988 Hannah Arendts Buch Über die Revolution. Mich beeindruckte ihre Leidenschaft für politische Freiheit und für das Glück im Öffentlichen; dass nämlich „keiner ‚glücklich’ genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, dass niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und dass niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht.“3 Erst in der gemeinsa­men Vergewisserung über das, was ist, so Hannah Arendt, gestaltet sich für uns die Wirklichkeit und das, was wir politisch wollen. Daher brauchen wir das Ge­spräch in überschaubaren diskussionsfähigen Gruppen. Mit anderen Worten, wir brauchen eine Staatsform, die an ihrer Basis, wie Rosa Luxemburgs Rätedemokratie aus lauter Runden Tischen besteht. Diese werden durch übergeordnete, gewissermaßen „darüber gestellte“ Tische, an denen die Delegierten die Vorschläge der unteren Ebene beraten, zusammengefasst. Das geht so weiter bis zum obersten Runden Tisch, dem „Bundesrat“. Eine derartige Struktur ermöglicht es allen Beteiligten, das Glück der freien politischen Betätigung im öffentlichen Raum zu finden, statt, um mit Biermann zu reden, „wie Vieh regiert zu werden“. Mit Hannah Arendt teilte ich die Abnei­gung gegenüber der Hegelschen Geschichtskonzeption und den ihr entsprechenden marxistischen Gesetzen der Ge­schichte. Vor allem lernte ich bei ihr, dass es möglich sei, neue Anfänge zu setzen, ohne nach einer Rückversiche­rung zu fragen. Warum also kein neuer Anfang jetzt, ohne externe Legitimation, statt, wie damals das Neue Forum, erst noch auf eine ordentliche Anerkennung durch die DDR-Staatsmacht zu hoffen.

Mein Freund Oskar Schmidt zeigt auf die zynischen Plakate, mit denen wir vom Prager Frühling in die DDR zurückkommend gleich hinter der Grenze empfangen wurden.

In dieser Stimmungslage zeigte mir Propst Furian im Zusammenhang des Beginns meiner neuen Tätigkeit als Dozent an der Berliner Predigerschule Paulinum am 29. August 1989 im Ev. Konsi­storium Berlin-Brandenburg eine Kopie des von Martin Gutzeit, Arndt Noack, Markus Meckel und Ibrahim Böhme unterzeichneten Aufrufs zur Bildung einer Initiativgruppe, mit dem Ziel eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen.4

War das die Erfüllung meiner politischen Träume? Martin Gutzeit kannte ich als Assistent von Richard Schröder an der Ostberliner kirchlichen Hochschule, dem Sprachenkonvikt, das meine Frau als Ephora leitete. Arndt Noack war mein Studentenpfarrerkollege in Greifswald. Markus Meckel und den später als IM enttarnten Ibrahim Böhme kannte ich noch nicht. Einige Tage überlegte ich, ob ich von meiner politischen Idealvorstellung einer repräsentativen Rätedemokratie Abstand nehmen sollte. Dann wurde mir klar, dass, selbst wenn uns diese in Ostdeutschland gelingen würde, wir als der kleinere Teil Deutschlands dies bei einer späteren Vereinigung mit Westdeutschland nicht gegen die dort etablierte Parteiendemokratie würden durchsetzen können. Als dann auch noch meine Tochter Lydia äußerte: So lange wie ihr warte ich nicht auf die Demokratisierung des Sozialismus; im Dezember werde ich volljährig; dann stelle ich meinen Ausreiseantrag; da wusste ich, jetzt musst du etwas tun, wenn all die Mühen des durchhaltenden Wartens auf bessere Zeiten – mein Freund Oskar Schmidt war längst in den Westen ausgereist – nicht umsonst gewesen sein sollten. In der Nacht zum 11. September öffneten sich in Ungarn die Tore gen We­sten. Da war mir klar, die Tage der SED-Herrschaft sind gezählt, die Macht wird bald schon auf der Straße liegen, jetzt müssen wir uns vorbe­reiten, diese zu ergreifen. Und so griff ich zum Hörer, um Arndt Noack meine Mitarbeit anzubieten.

Markus Meckel und Arndt Noack in Schwante

Daraufhin lud mich Martin Gutzeit Mitte September zu einer konspirativen Sitzung in seine Wohnung ein. Außer mir waren hinzugeladen: Steffen Reiche, Angelika Barbe und Reiner Rühle. Ein erster Beschluss bestand darin – ich besitze noch ein entsprechendes Beglaubigungsschreiben von Martin Gutzeit – dass wir vier Hinzugekommenen an die Stelle der Erstunterzeichner treten sollten, falls die Staatssicherheit sie aus dem Verkehr zöge. Dann wurden die Aufgaben verteilt.

Ich bewarb mich um die Erstellung des Statuts, da für mich die innerparteiliche Demokratie das alles Entscheidende war, während sozialdemokratische Grundsätze nicht unbedingt noch einmal neu erfunden werden mussten. Nicht so sehr die Unfähigkeit einzelner Menschen, sondern die zentralistischen Strukturen der DDR waren m. E. die Hauptursache unserer Misere. Wenn ich schon nicht Rosas und Hannahs Rätedemokratie zum Zuge bringen konnte, so wollte ich wenigstens innerpartei­lich ein paar zusätzliche antizentralistische Strukturelemente einbauen. Hofmeisters besorgten mir ein Statut der SPD5. Auch war mir mein Nachbar, Klaus-Dieter Kaiser, damals Leiter der Geschäftsstelle der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR, ein wichtiger Gesprächspartner. Wir wollten einerseits der immer noch mächtigen SED mit einer starken Struktur in Gestalt einer Partei begegnen, andererseits sollte durch basisdemokratische Strukturelemente verhindert werden, dass die zu gründende Partei zum bloßen Kanzlerwahlverein verkommen könnte.6 Und so schrieb ich auf dem von meinem westdeutschen Freund Hans-Otto Hebbinghaus bei mir, Nordendstr. 61B, gerade noch rechtzeitig eingetroffenen Atari-Computer in den ersten Entwurf des Organisationsstatuts der SDP:

§ 3 »Die Grundsätze des basisdemokrati­schen Strukturaufbaus sind gesprächsfähige Gruppen (10-20 Personen) auf allen Ebenen.«

§ 10 »Bei Übernahme eines Staatsamtes oder Mandats sind alle Parteifunktionen niederzulegen und ruht das passive Wahlrecht.«

§ 20 »Jeder Delegierte ist jederzeit, wenn es die ihn delegierende Gruppe wünscht, zur Rechenschaft verpflichtet«

In der Endfassung § 17 »Hat jemand ein Parteiamt acht Jahre inne, kann er nur noch mit 2/3-Mehrheit für dieses Amt wiedergewählt werden.«

Bei der nächsten konspirativen Sit­zung gab es Streit mit Markus über derart basisdemokratische Elemente. Da ich bei meiner Meinung blieb, beauftragte er Martin Gutzeit, in Zusammenarbeit mit mir dem Organisationsstatut die wichtigsten sozialdemokratischen Grundsätze voranzustellen. Dass die so entstandenen § 1-10 der Endfassung des Organisationsstatuts7 ein nachträglich eingefügter Fremdkörper sind, zeigt sich schon daran, dass diese Paragrafen, abgesehen von meinem dort verankerten basisdemokratischen Grundsatz § 4, 3. Satz: »Die Parteiarbeit beruht auf der von der Basis ausgehenden und alle Ebenen von dort her bestimmenden innerparteilichen Demokratie.«, nichts mit Organisation zu tun haben.

Als Grün­dungstermin schien uns der 7. Oktober besonders geeignet. So würde deutlich sichtbar, dass der durch Zwangsvereinigung erfolgten Gründung vor 40 Jahren jetzt eine freiheitliche Gründung folgt. Außerdem würde die Stasi zum 40. Jahrestag in Berlin gebunden sein. Zur Tar­nung sprachen wir gegenüber anderen Personen von einem späteren Datum. Als Ort schlug Steffen Reiche sein Pfarrhaus in Christienendorf vor. Als wir erfuhren, wie der Versuch, den Demokratischen Aufbruch zu gründen, durch die Stasi verhindert wurde, suchten wir nach einem anderen Ort. Da ein Gasthaus eher zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei passen würde, bat ich meinen Nachbarn, Torsten Hilse, er möge zu meinem Studienfreund Pfarrer Gerhard Gabriel nach Grüneberg fahren und ihn bitten, beim örtlichen Gastwirt unsere, wenn nötig als Familienfeier zu tarnende SDP-Gründung anmelden. Das geeignete Hinterzimmer im Gasthaus Drei Linden kannte ich von der ein Jahr zuvor dort stattgefundenen Feier zum 50. Geburtstag meines „Doktorvaters“ Wolf Krötke. Dem Risiko, anschließend verhaftet zu werden, wollte Gabriel seinen Gastwirt und Gemeindekirchenratsmitglied, Uwe Fialkowski, jedoch nicht aussetzen. So wurde die Gründung ins Pfarrhaus von Pfarrer Joachim Kähler nach Schwante verlegt. Vorsichtshal­ber beschlossen wir, niemandem den Ortsnamen laut mitzuteilen, sondern den Gründungsort un­seren Leuten lediglich auf einer Landkarte zu zeigen. Diese Geheimhaltung funktionierte insofern, als die Berliner Kirchenbeauftragte, Helms, noch am 4. Oktober auf der falschen Fährte war. Denn sie zitierte meine Frau zum Rat des Stadtbezirks Mitte, um ihr vorzuhalten, man habe zuverlässige Informationen, dass am Wochenende unter meiner Beteiligung im Sprachenkonvikt eine sozialdemokratische Partei gegründet würde. Insgeheim hatten wir, für den Fall, dass die Stasi die ordentliche Gründung am 7. Oktober verhindern würde, am 2. Oktober mit unseren Unterschriften sowie denen von Reiner Hartmann, Gotthard Lemke, Dankwart Brinksmeier und Joachim Görtz bereits eine provisorische Gründung vollzogen und diese Urkunde bei befreundeten Journalisten hinterlegt. Da ich annahm, dass wir nach der Gründung festgenommen und alle Unterlagen kon­fisziert würden, versuchte ich am Abend des 6. Oktober, wichtige Dokumente, meinen Computer und die Disketten bei einem Freund unterzubringen. Dem war das zu heiß. Nach anderen vergeb­lichen Versuchen fuhr ich zu Bischof Gottfried Forck. Sofort willigte er ein, und wir versteckten al­les im Keller seines Hauses.

Konrad Elmer, die Gründungsversammlung der SDP in Schwante leitend, im Hintergrund Angelika Barbe

Um für die hinreichende Repräsentanz von Frauen bei unserer Gründung zu sorgen, hatte ich tags zuvor noch kurzer Hand Carola Gabler, eine mir bis dahin unbekannte Sekretärin der Evangelischen Kirche der Union angesprochen, ob auch sie vielleicht bei der Gründung einer sozialdemokratischen Partei mitmachen wolle. Sofort sagte sie zu, was mir hätte zu denken geben müssen. Am Morgen des 7. Oktober fuhr ich zusammen mit ihr, die 14 Tage später, nachdem sie unser Gründungsprotokoll geschrieben hatte, spurlos verschwand (!), zum S-Bahnhof Pankow-Heiners­dorf, um Thomas Krüger und Sabine Leger abzuholen. Da bemerkten wir einen uns verfolgenden Lada. Auch Umwege über Seitenstraßen halfen nicht, ihn abzuschütteln. Wir saßen in der Falle. Entweder würden wir der Stasi den Gründungsort verraten, oder der Versammlung würden wichtige Papiere fehlen, hatte ich doch die Kopien der Geschäftsordnung und des Statuts in meiner Aktentasche. Schon bereute ich, entgegen Markus Meckels Rat die letzte Nacht zu Haus verbracht zu haben. Da kam mir folgende Idee: Ich hielt an der letzten Oranien­burger Tankstelle, um mir das örtliche Telefonbuch geben zu lassen. Darin fand ich die Adresse von Superintendent Naumann. Bei ihm angekommen überlegten wir, wie wir den Lada loswerden könnten. Naumann entwickelte einen Plan. Wir sollten am Ufer der Havel entlang bis zu einer Fußgängerbrücke fahren. Er würde auf der anderen Seite mit seinem Trabi auf uns warten. So geschah es. Thomas Krüger blieb, um die Stasi zu binden, im Wagen. Wir anderen drei rannten über die Brücke, ein Mann aus dem Lada hinter uns her, doch konnte er nur noch Naumanns Num­mernschild notieren. Sicherheitshalber wechselten wir kurz danach in den Pkw eines von Naumann bestellten Gemeindekirchen­rats, der uns unbeobachtet nach Schwante brachte.

Auf der Treppe zum Garten hinter dem Pfarrhaus von Schwante, links Frank Bogisch und Simone Manz, 6. v. links Gerd Döhling, 9. Harald Seidel, daneben Dankwart Brinksmeier, mit Bart Gotthard Lemke und Reiner Hartmann sowie Steffen Reiche, hinter ihm Oliver Richter, vor ihm Stefan Finger, dahinter mit Bart Torsten Hilse, hinter ihm rechts Johannes Richter, davor Arno Behrend, ganz vorn Joachim Görtz, dahinter Arndt Noack, ganz rechts Konrad Elmer, im Türrahmen links Reinhardt Kähler, rechts im Türrahmen, ins Haus blickend, Martin Gutzeit.

Ibrahim Böhme eröffnete die aus etwa 50 Teilnehmern bestehende Gründungsversammlung und stellte mich als den Versammlungsleiter vor. Im Hintergrund lief eine Videokamera. Markus hielt sein Grundsatzreferat, dann beschlossen wir die Geschäfts- und Tagesordnung. Danach wurden die Grundsätze des Statuts, § 1-10 diskutiert. Als auch diese beschlossen waren und die Diskussion um die mir so wichtige Parteistruktur beginnen sollte, erklärte Markus, wir müssten jeden Moment mit dem Eintreffen der Polizei rechnen. Deswegen sollten wir die Gründung sofort voll­ziehen. Die Parteistruktur könne man später im­mer noch beschließen. Leider folgte die Versammlung diesem Manöver und mein innerparteilicher Strukturaufbau erhielt, abgesehen von dem bereits beschlossenen basisdemokratischen Grundsatz in § 4, damals lediglich den Charakter einer Empfehlung. Nach dem Verlesen der entsprechenden Urkunde, wurde die Gründung der SDP durch Abstimmung und Unterschrift von etwa 40 Teilnehmern auf drei Exemplaren des Gründungstextes vollzogen. Als dann auch die Wahl des 15-köpfi­gen Vorstands abgeschlossen war, machte sich Erleichterung breit, und wir stellten uns einem Gründungsfoto. Steffen Reiche brachte eine Kopie der Gründungsurkunde zu westdeutschen Pressevertretern nach Ostberlin und ein Kurier schleuste die Videokassette nach Westberlin, so dass bereits in der Tagesschau unsere Gründung gesendet werden konnte.

links mit Bart Stephan Hilsberg, dahinter Johannes Richter, davor Arno Behrend, daneben Torsten Hilse im Gespräch mit Konrad Elmer vorne rechts Ibrahim Böhme dahinter Arndt Noack, Simone Manz u. Joachim Görtz

Nun war von uns Vorstandsmitgliedern nur noch der geschäftsführen­de Vorstand zu wählen. Merkwürdigerweise wollte Böhme nicht für den Posten des ersten Sprechers kandidieren. So kam es zur Stichwahl zwischen Markus und Stephan Hilsberg. Letzterer erhielt die meisten Stimmen, weil er, wenn auch eines Pfarrers Sohn, kein Pfarrer war. Markus wurde zweiter Sprecher zusammen mit Angelika Barbe, Böhme wurde Ge­schäftsführer und Gerd Döhling Schatz­meister.

Als wir heimfuhren und ich in Oranienburg meinen offen stehenden Trabi abholte, konnte ich es im­mer noch nicht fassen, dass wir 43 Jahre nach der Zwangsvereinigung die Sozialdemokratische Partei in der DDR neu gegründet hatten. Hätten wir gewusst, dass das so relativ problemlos gelingen würde… Zu Hause angekommen wartete ich darauf, verhaftet zu werden. Stattdessen wurde unser Haus von einem Lada bewacht. Am nächsten Morgen klopfte ich an die Fensterscheibe der mich freundlich anlächelnden vier Herren um ihnen vorzuschlagen, dass sie der Staatskasse doch eine Menge Spritgeld sparen könnten. Die SDP-Gründung sei nämlich abgeschlossen und wir führen heute lediglich privat zu meiner Schwägerin nach Genthin. Ähnlich dem Selbstverständnis Mielkes, „Ich liebe Euch doch alle“, lautete ihre Antwort: „Wir beschützen Sie ja nur“. Tatsächlich verfolgten sie mich nun nicht mehr.

Als ich am 9. Oktober in den Nachrichten erfuhr, dass bei der großen Leipziger Montagsdemonstration nicht geschossen wurde, war mir klar: Jetzt haben wir gewonnen! Und so werde ich nicht müde, diesen Tag als den eigentlichen Feiertag der deutschen Einheit zu empfehlen. Wie bereits Dresden den 8. Oktober, so könnte Plauen und Berlin wegen entsprechender Demonstrationen den 7. Oktober zum regionalen Feiertag der Friedlichen Revolution erklären.8 So würde deutlicher als bisher festgehalten, dass es die durch unsere Revolution errungene Freiheit war, welche die Mauer zum Einsturz brachte und den Weg zur Deutschen Einheit ermöglichte.

Pressekonferenz der SDP mit Konrad Elmer, Angelika Barbe, Stephan Hilsberg, Ibrahim Böhme und Martin Gutzeit

Nun galt es, den Aufbau der SDP unter schwierigen Bedingungen – ich besaß, DDR-üblich, nicht einmal einen Telefonanschluss – voranzutreiben. So telefonierte ich zwischen meinen Vorlesungen vom Paulinum aus zu Verwandten, Freunden und Bekannten, um Kontaktpersonen zu gewinnen, die unsere Papiere verbreiteten. Manchen Freunden nachdem ich sie in die Kontaktadressenliste aufgenommen hatte, erging es ähnlich, wie meinem Schulfreund Karlheinz Engelhardt aus Großbodungen, in dessen Kalibergwerksbetrieb, alsbald eine Betriebsparteigruppensondersitzung mit dem einzigen Tagesordnungspunkt einberufen wurde: „Der Klassenfeind hat sich enttarnt!“ Auch verteilten meine Töchter mit Eifer das Statut, Lydia an ihrer Theresien- und Julia an der Schliemannschule, bis sie aufgrund einer diesbezüglichen Anzeige ihrer Klassenlehrerin am 11. Oktober aus der Schule heraus verhaftet und, ohne uns zu benachrichtigen, sechs Stunden lang über die konspirative Arbeit ihres Vaters verhört wurde. Jeden Abend ergänzte und kopierte ich die SDP-Kontakt-Adressenliste nebst Statut, zuerst als Blaudruck, später mit Hilfe von Wachsmatrizen in der Geschäftsstelle der ESG, um sie in die Lande zu verschicken. Dem Bedarf war kaum nachzukommen. Eigentlich hätte ich damals meinen Beruf aufgeben, mit dem Trabi in meine Heimat nach Thüringen fahren und jeden Abend in einer anderen Stadt die SDP gründen sollen. Denn wer zuerst kam, zu dem kamen die politisch interessierten Leute. Noch aber war die Entscheidung, Berufspolitiker zu werden, nicht gefallen.

Die wichtigste Frage der meisten Sympathisanten lautete: Müssen wir wirklich eine Partei gründen? Kön­nen wir nicht die Form der Bür­gerbewegung, die informellen Gruppen beibehalten? An der Beantwortung dieser Frage spaltete sich die Op­positionsbewegung des Herbstes `89. Als die Gruppen merkten, dass auch sie eine parteiähn­liche Organisationsform finden müssen, war ein Zusammenkommen nicht mehr möglich, zumal durch persön­liche Differenzen zwischen Rainer Eppel­mann und Bärbel Bohley sich die Bürgerbe­wegung ins Neue Forum und den Demokratischen Aufbruch spaltete.

In der breiten Öffentlichkeit wurde die SDP zum einen durch die schon länger beantragte frühe Reise Steffen Reiches nach Westdeutschland und seine Gespräche mit der SPD-Führung, zum anderen durch die Berliner Großdemonstration am 4. Novem-ber auf dem Alexanderplatz bekannt. Aufgrund meiner Intervention beim Chefbühnenbildner der Deutschen Staatsoper Wilfried Werz, mit dessen Tochter meine Lydia befreundet war, bekam die SDP in letzter Minute einen Platz auf der dortigen Rednerliste. Diesen bot ich Böhme an. Er lehnte jedoch ab und bat mich, dort für die SDP zu sprechen. Als es so weit war, hatten die anderen Redner die geplante Redezeit bereits verbraucht. Ulrike Poppe und mir wurde signalisiert, dass unsere Beiträge wegfallen müssten. Ich legte mein Redemanuskript beiseite und antwortete Henning Schaller, hier müsse doch wenigstens noch ein Wort zur Mitschuld der DDR an der Nieder­schlagung des Prager Frühlings gesagt werden. Das leuchtete ihm ein, und so konnte ich als mein Herzensanliegen den abertausend Demonstranten zurufen: „…Wir Sozialdemokraten werden jede zukünftige Regierung daran messen, ob sie hier (im Blick auf die Mitwirkung unserer alten Regierung an der Niederschlagung des Prager Frühlings) zu einem wirklichen Schuldbekenntnis fähig ist…“9

Am 5. November organisierten wir in der Sophienkirche die Gründung der Ostberli­ner SDP. Zu meiner Freude beschloss die Versammlung gegen das Votum von Böhme meine basisdemokratische Parteistruktur. Ähnliches gelang auf dem Leipziger Parteitag bei der Verabschiedung des endgültigen Organisationsstatuts. So wurde am Begriff Basisgruppe festgehalten und der Ämterhäu­fung durch entsprechende Verhaltensregeln Einhalt geboten. Zudem statteten wir den Parteirat mit größeren Kom­petenzen aus, als das im Statut der westdeutschen SPD vorgesehen war. Später in den Vereinigungsverhandlungen konnte ich als Vermächtnis von Schwante im gemeinsamen Statut der Bundes-SPD gegenüber Erich Bettermann und Hans-Jochen Vogel die Wendung durchsetzen, § 8 (1): Es „vollzieht sich die politische Willensbildung der Partei von unten nach oben.“10 Und so würde es nicht schaden, wenn im 20. Jahr nach der Gründung die Vielen da unten die Wenigen da oben mal wieder an diesen Satz erinnerten!

Ausgerechnet am Tag des Mauerfalls bekam ich das Visum für eine Reise zum Parteitag der SPD in Frankfurt am Main. So zeigte sich, im Nachhinein betrachtet, gleich nach dem Mauerfall geradezu symbolisch, wohin die Reise ging und von wo aus uns in wohlwollender Fürsorge die errungene Macht zum Großteil wieder abgenommen wurde. Kaum wieder zu Hause angekommen, mahnte mein theologischer Lehrer Wolf Krötke, wir sollten unsere Aktivitäten stärker als bisher auf das Ziel der Deutschen Einheit richten. Und so bekannten wir uns am 3. Dezember in einer Erklärung des Vorstands der SDP zur Einheit der deutschen Nation, welche von beiden deutschen Staaten gestaltet werden sollte.

Bereits auf der Berliner Delegierten­konferenz am 12./13. Ja­nuar 1990 wurde die SDP in SPD umbenannt. Damit sollte verhindert werden, dass die SED-PDS möglicherweise selbst mit diesem Namen uns im Wahlkampf gegenübertreten könnte.

Für den 14. Januar 1990 hatte ich eine Demonstration zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angeregt, um der SED-PDS den diesbezüglichen Alleinvertretungsanspruch streitig zu machen. In meiner von Walter Momper sogleich veröffentlichten Rede kann man schmunzelnd Sätze wie diese lesen: „Das ganze Deutschland braucht die Sozialdemokratie der DDR…, denn wo ist sie da drüben schon zu finden, die paritätische Mitbestimmung in den Großbetrieben? Könnten da nicht wir, wenn uns die Sache hier gelingt, später den Sozialdemokraten dort unter die Arme greifen?“11

Und so enden meine früheren Erinnerungen von 1991 mit folgenden Gedanken: „Ich glaube, dass die Sozialdemokra­tie in Deutschland an den basisdemokra­tischen Impulsen von Rosa Luxemburg und Hannah Arendt nicht mehr vor­übergehen kann, sondern wir diese in der innerparteilichen Struktur mehr und mehr zum Zuge bringen werden, und dass man sich dabei an die Anfänge von Schwante erinnern wird, an jenen Ort, wo keine Wendehälse ihren Vorteil such­ten, sondern unerschrockene Menschen einen neuen Anfang wagten. Denn auf den Anfang kommt es an!“12

Dr. Konrad Elmer-Herzig Potsdam, den 9. 10. 2009

Nansenstr. 6, 14471 Potsdam

Tel.: 0331-9512904

www.elmer-herzig.de

elmer-herzig@gmx.de

1 Präzisierte Fassung meiner gleichnamigen Erinnerungen in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, Februar 1991, S. 136-140. Vgl. Auf den Anfang kommt es an: Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989, Interviews und Analysen, Hrsg. W. Herzberg; P. v. zur Mühlen, Bonn: Dietz 1993.

2 Interview von Horst Uebelgünn mit Renate Hofmeister. In: 20 Jahre SPD, Wiedergründung der SPD in Lichtenberg und Hohenschönhausen, Hrsg. SPD Lichtenberg, Berlin 2009, S. 16.

3 Hannah Arendt, On Revolution, New York 1963, Über die Revolution, Serie Pieper 1974, S. 162ff u. 319ff

4 http://www.ddr89.de/ddr89/sdp/SDP23.html

5 s. Anm.2.

6 Vgl. K. Elmer, Innerparteiliche Rätedemokratie – Zwischen Basis-Ideologie und Kanzlerwahlverein. Unerledigte Anfragen aus dem Statut der SDP. In: Vorwärts, rückwärts, seitwärts…Hrsg. P. v. Oertzen, SPW-Vlg. 1991.

7 Statut der SDP v. 7. 10. 1989, http://www.ddr89.de/ddr89/sdp/SDP23.html.

8Konrad Hoppe berichtete in unserem Philosophiekreis: Hans-Georg Ponesky habe zur vorgezogenen 40-Jahrfeier in Potsdam am 4. Oktober in der Sporthalle mit mehreren Chören ein Potpourri veranstaltet, zu dessen Krönung er die versammelten SED-Genossen mit voller Inbrunst singen lies: „ Oh du lieber Augustin… alles ist hin“!

9 4. 11. 89. Protestdemonstration Berlin DDR. Hrsg. A. Hahn, G. Pucher, H. Schaller, L. Scharsich, Berlin 1990, S. 201.

10 Vgl. K. Elmer, Vor- und Wirkungsgeschichte des Organisationsstatuts der SDP. In: Von der Bürgerbewegung zur Partei. Die Gründung der Sozialdemokratie in der DDR. Diskussionsforum im Berliner Reichstag am 7. Oktober 1992. Hrsg. D. Dowe, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Gesprächskreis Geschichte, H. 3, Bonn 1993.

11 K. Elmer, Rede auf der Kundgebung zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und an die Opfer von Militarismus, Faschismus und Stalinismus am 14. Januar 1990 in Berlin.

12 s. oben Anm. 1, S. 140.

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