Konrad Elmer
Innerparteiliche Rätedemokratie – Zwischen Basis-Ideologie und Kanzlerwahlverein*
– Unerledigte Anfragen aus dem Statut der SDP –
Die Mitwirkung in einer Partei verliert an Popularität. Basisdemokratisch orientierte Bürgerbewegungen leiden an fehlender Entscheidungskraft und politisch Durchsetzungsfähigkeit
Der Bundestagsabgeordnete Dr. Konrad Elmer schlägt eine Strukturveränderung innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vor, die ihm schon bei der Arbeit am Statut zur Gründung der SDP vor Augen stand: Die Gliederung in gesprächsfähige Gruppen auf allen Ebenen. ein „Rätesystem“, das alle zu Wort kommen läßt ohne die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu verlieren, so daß durch größere Transparenz und Realitätsnähe die älteste Partei Deutschlands, neue Anziehungskraft gewinnt.
I.
Als ich im September 1989 zusammen mit Klaus-Dieter Kaiser. dem Generalsekretär der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR, den in Schwante zu beschließenden Strukturaufbau der SDP konzipierte, entstand folgendes Modell:
– Verbindliche, wohnsitzorientierte Basisgruppen mit etwa 15 Mitgliedern;
– Delegierung zweier Vertreter, möglichst einer Frau und eines Mannes, zur
nächsthöheren Gruppe. die dann etwa 14 Personen umfaßt. Diese Gruppe delegiert
wiederum zwei Vertreter zur nächsten Leitungsebene und so fort.
– Daraus ergeben sich die Orts-. Kreis-. Bezirks- und (je nach Mitgliederzahl
notwendigen) Zwischenebenen.
– Auf DDR-Ebene entsteht der Landesparteitat mit 30 Mitgliedern.
– Die aus diesen Delegierten sich zusammensetzenden Leitungsgremien werden auf den jeweiligen Parteitagen durch weitere Kandidaten entsprechend der unterschiedlichen Mitgliederzahlen der Regionen und Gruppen ergänzt und gemeinsam zur Wahl gestellt. Dabei muß im neugewählten Rat aus jeder delegierenden Gruppe wenigstens ein Delegierter vertreten sein. Gewählt sind dann also der/die Kandidatin einer jeden delegierenden Gruppe der/die die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, sowie, unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit, die weiteren Kandidaten mit den meisten Stimmen bis zur vom Parteitag bestimmten Vollzähligkeit der Leitungsgruppe.
– Hat jemand ein Parteiamt 8 Jahre lang inne, kann er nur noch mit Zwei-Drittel-Mehrheit für dieses Amt wiedergewählt werden.
– Bei Übernahme eines Mandates oder Saatsamtes sind alle Parteifunktion niederzu-legen, und es ruht das passive Wahlrecht. …
– Alle Delegiertensitzungen und Parteitage sind so aufzuzeichnen, daß jedes Parteimitglied
den Verlauf der Diskussion verfolgen kann…
– Jeder Delegierte ist jederzeit, wenn es die ihn delegierende Gruppe wünscht, zur
Rechenschaft verpflichtet.1
Was waren unsere damaligen Leitmotive? Wir wollten keine Partei im üblichen Sinn, nicht den Kanzlerwahlverein des Westens und schon gar nicht den Parteizentralismus des Ostens. Auch stand uns keine diffuse, undifferenzierte revolutionäre Volksbewegung vor Augen. Vielmehr wollten wir den Rätegedanken Rosa Luxemburgs2 für die Strukturen einer modernen sozialdemokratischen Partei fruchtbar machen.3
II.
Die Dynamik der Einheit hat unsere Ansätze in den Hintergrund treten lassen. Die Probleme sind geblieben: Bürgerbewegungen agieren auf der politischen Bühne, um die Parteiendemokratie durch bessere Strukturen abzulösen: Alle sollen an allem partizipieren. Alles soll an der Basis und von ihr entschieden werden. Strukturen repräsentativer Demokratie sind, wo irgend möglich, durch basisdemokratische Entscheidungsfindung zu ersetzen. Je mehr jedoch alle über alles entscheiden sollen, desto weniger, so scheint es, kann von dieser Bewegung entschieden werden. Warum ist es derzeit so schwer, Menschen Für die Mitarbeit in einer Partei zu gewinnen? Abgesehen von alldem, was mit diesem Wort in der DDR-Vergangenheit an Negativem verbunden war, auch in der alten Bundesrepublik sind Parteien nicht gerade populär. Da assoziieren die Bürgerinnen und Bürger: Parteidisziplin, opportunistisches Karrieredenken, Filz und Schlimmeres. Partei, das erscheint vielen bestenfalls als ein notwendiges Übel. Und dabei geht es mit Hilfe der Parteien um die Gestaltung zentraler Bereiche menschlichen Zusammenlebens, woran mitzuwirken eines jeden Menschen Interesse sein müßte.4 Kaum 5 Prozent der Bevölkerung sind heute parteilich organisiert, und selbst aktive Parteimitglieder gewinnen den Eindruck, an den wirklich wichtigen Entscheidungen nicht beteiligt zu sein.
Die Frage lautet: Wie sind die Vorteile von Partei und Bürgerbewegung für eine neue Parteistruktur zu verbinden und die Nachteile beider zu vermeiden? Entscheidender Ansatzpunkt meiner Überlegungen war und ist das Insistieren auf einer freien, qualifizierten Willensbildung in den konkreten Gruppen vor Ort. Wir Menschen, als durch Kommunikation konstituierte Wesen, wissen nicht, in welcher Welt wir leben und was wir wollen, bevor wir uns mit anderen darüber verständigt haben. Es gibt nicht „die Welt an sich“, in die wir hineingestellt sind, sondern die Welt gestaltet sich für uns erst im Vollzug von Kommunikation (Hannah Arendt). Entscheidend ist für jeden, der an der politischen Willensbildung teilnehmen will, daß er einen konkreten Raum findet, in dem er mit anderen in eine gleichberechtigte Kommunikation eintreten kann. Dies setzt eine Gruppenstruktur voraus, in der jeder ausreichend zu Wort kommt. Alles hängt daran, ob die Parteistruktur ihren Ausgang von solchen gesprächsfähigen Gruppen nimmt, in denen auf Argumente eingegangen wird und sich nicht nur ein Statement an das andere reiht.5
III.
Das eigentliche Übel unserer bisherigen Parteistruktur sind die viel zu großen Ortsvereine, in denen die Dauerredner und die Prominenz das Feld beherrschen. Sie hoffen dort nicht eigentlich auf neue Erkenntnisse, sondern mühen sich, den anderen ihre Erkenntnisse nahezubringen. Das heißt, der Bewußtseinsbildungsprozeß läuft schon auf der untersten Ebene meistens von oben nach unten. Nur in Ausnahmefällen wird diese Struktur durchbrochen. um den einen oder anderen Repräsentanten von seinen Höhenflügen auf den Boden der Realität zu holen, ohne daß man freilich Gelegenheit hatte, sich in dieser ‚Gruppe über das, was die Realität ist, zu verständigen. Wie sich unsere Partei durch diese Struktur um die Mitarbeit vieler ihrer Mitglieder bringt, zeigt sich an folgender Beobachtung: Ob ein Ortsverein 50 oder 500 Mitglieder hat, in den normalen Sitzungen sind in beiden Fällen annähernd gleich viele Mitglieder ver-treten, nämlich selten mehr als 20 bis 30. Ich behaupte nun, das liegt schlichtweg daran, daß mehr nicht ernsthaft zu Wort kommen können, und daß den übrigen die Sache deshalb irgendwann einmal nichts mehr gegeben hat. Würde man den Ortsverein mit 500 Mitgliedern in 10 Basisgruppen untergliedern, so könnten sich zehnmal so viele Mitglieder an der Diskussion beteiligen und entsprechend aktiv mitarbeiten. In diese gesprächsfähigen Basisgruppen würden auch sehr viel leichter SPD-Sympathisanten integriert werden und Freude an der Mitarbeit gewinnen.6
Natürlich wird es immer auch „bloß zahlende Mitglieder geben, die sich überhaupt nicht sehen lassen. Aber lieber die Gruppen etwas kleiner als zu groß. Lieber bloß zehn als dreißig Gesprächsteilnehmer. Spätestens bei 50 Mitgliedern, so sollte es im Statut festgeschrieben werden, hat sich die Gruppe mit ihrem Einzugsgebiet zu teilen.
Wenn die Partei in ihrer jetzigen Struktur mit den großen Ortsvereinen überhaupt funktioniert, dann nur deshalb, weil es unterhalb der Ortsvereine immer noch die eine oder andere informelle Gruppe gibt, in der echte Gespräche stattfinden. Die eigentliche Kommunikation aber dürfen wir nicht den informellen Gruppen, also dem Zufall, überlassen. Es birgt die Gefahr, daß solche Gruppen nun wiederum zu klein, zu privat und also zu sehr Klüngelrunden werden, in denen partikulare und private Interessen die Oberhand gewinnen. Drei, vier Gruppenmitglieder können sich zu rasch einigen, um dann die anderen im Ortsverein nur noch ins Schlepptau zu nehmen. In den informellen Gruppen finden sich die Gleichgesinnten, während es wichtiger wäre, schon auf der untersten Ebene die unterschiedlichsten Weltsichten miteinander ins Gespräch zu bringen. Darum gilt das Wohnortprinzip: Nicht die, die sich sympathisch sind, sollen sich zusammenfinden, sondern die, welche einen ähnlichen Lebensraum bewohnen. Sie verständigen sich gemeinsam über das, was es zu gestalten gibt. Wohnsitzorientierte, gesprächsfähige Basisgruppen, Abteilungen, Ortsvereine, oder wie man die ersten Gruppen vor Ort sonst noch nennen mag, sind der Ausgangspunkt einer sinnvollen Parteistruktur.
IV.
Ich verwende den Begriff .Basisgruppe als Bezeichnung einer ersten Struktureinheit und nicht im Sinne der sogenannten „Basisdemokratie“. Bei der reinen Basisdemokratie wird durch die nicht mehr gesprächsfähige Vollversammlung der Einzelne schon wieder übergangen. Der Ausdruck Basisdemokratie hat etwas ideologisches, denn „Basis“ ist ein viel zu verschwommener Begriff , ebenso wie z.B. der Ausdruck „das Volk“. Beides suggeriert eine besondere Nähe zur Wirklichkeit, obwohl niemand sagen kann, wer „die Basis“ ist. Denn weder spricht die Basis als solche noch das Volk, sondern es sprechen immer nur einzelne ohne Legitimationsstruktur „für“ die Basis und „für“ das Volk. Selbst wenn das Volk im ganzen zusammenkäme, so sind es doch immer nur einige wenige, welche am Mikrophon die Fragen stellen oder die Antworten geben, zu denen applaudiert oder gepfiffen wird. Und woher weiß „das Volk“, ob ihm nicht die wesentlichen, die sinnvolleren Alternativen vorenthalten werden? In fast allen Fällen gibt es auf diesen Massenveranstaltungen nichts mehr zu entscheiden, sondern höchstens vorher längst Entschiedenes abzusegnen. Das eigentliche Problem besteht also darin, wie die Vermittlung funktioniert, und zwar nicht zwischen einer diffusen Basis und einem anonymen Überbau, sondern konkret zwischen allen, die an den politischen Entscheidungen mitwirken wollen. Wie kann organisiert werden, daß jeder mit seinen Argumenten wirklich gehört wird und daß diese, obwohl es tausend verschiedene sein können, gleichberechtigt einfließen in eine Gesamtentscheidung? Ob „oben“ oder „unten“ entschieden werden soll, ist eine gleichfalls ideologische Alternative. Entscheidend ist die Frage der Vermittlung, der Organisation des reibungslosen Hin und Her von unten nach oben und umgekehrt. Denn „die da oben“ sind auf ihre Weise genauso Basis wie „die da unten“ oder auch „die im Mittelbau“.
Wie soll die in den wohnsitzorientierten Basisgruppen gewonnene Willensbildung zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden? Üblicherweise gibt es dafür bei den Befürwortern der reinen Basisdemokratie die Vollversammlungen. Doch sofort tritt wieder jenes Problem auf, daß hier allein die Rhetoriker dominieren und es nicht zu einem allumfassenden Austausch und ruhigen Abwägen der Argumente aus den verschiedenen Lebensperspektiven kommt. Das pragmatische Modell der Parteien ist ein handlungsfähiger, auf Kreisparteitagen zu wäh-lender Kreisvorstand. Da es bei einem solchen Vorstand, vor allem beim geschäftsführenden, in dem die eigentlichen Entscheidungen fallen, weniger um eine gleichberechtigte Zusammenfassung aller Gruppen, sondern vielmehr darum geht, möglichst schnell Entscheidungen herbeizuführen, können nicht alle Basisgruppen vertreten sein. Also geschieht auch hier wieder Willensbildung von oben nach unten – eben ein Vorstand, der vor den Basisgruppen steht. Gefragt sind Entschlußkraft und Durchsetzungsvermögen und weniger die Fähigkeit., Meinungen anderer zusammenzufassen und in ihrer eigenen Intention weiterzutragen. Darum empfehle ich anstelle des Kreisvorstandes einen Kreisparteirat als erste zusammenfassende Ebene der innerparteilichen Rätedemokratie. In ihm sollen alle Basisgruppen mit 2 Delegierten vertreten sein. Zwei, nicht nur deshalb, damit im Falle der Verhinderung wenigstens einer aus jeder Gruppe anwesend ist, sondern sowohl, um sich in der Darstellung des Willens der Basisgruppe gegenseitig zu ergänzen und zu kontrollieren, als auch, um eine Frau und einen Mann delegieren zu können, die ihre je spezifischen Betrachtungsweisen einbringen. Auch der Parteirat muß von der Zahl seiner Mitglieder her gesprächsfähig bleiben. Das heißt, er sollte nicht mehr als 10 Basisgruppen zusammenfassen. Darum sind, wenn nötig, als Zwischenebene Orts- bzw. Wohnbezirks-Parteiräte zu bilden. Die gleiche Leitungsstruktur wiederholt sich auf Landes- und auf Bundesebene, indem jeder Kreisparteirat aus seiner Mitte zwei Delegierte für den Landesparteirat wählt usw. usf.
Die Delegierten der höheren Ebene sind der niedrigeren zur Rechenschaft verpflichtet. Wesentliches Moment der politischen Struktur muß die Verantwortbarkeit dessen sein, was wir vertreten. Es genügt nicht, daß jemand sagt: „Ich habe nach meinem Gewissen entschieden“, sondern er muß in der Lage sein, diese Gewissensentscheidung kommunikabel werden zu lassen. Ist ein Delegierter dazu nicht in der Lage, oder kann er die Gründe nicht so einsichtig machen, daß er die Zustimmung der Mehrheit seiner Gruppe findet, so wird er zwar nicht sofort, jedoch bei der nächsten Delegiertenwahl durch einen anderen ersetzt.
Warum nicht sofort? Hier grenze ich mich noch einmal ab von der reinen Basisdemokratie mit ihrem imperativen Mandat. Eine sachgemäße politische Willensbildung ist nicht einfach die Summe der Egoismen der Einzelnen. Von den persönlichen Interessen ausgehend muß nämlich der Wille zur Verantwortung des Ganzen immer erst geformt werden. Deswegen mein Insistieren auf der Gesprächsfähigkeit der Gruppen, damit der Einzelne die Gelegenheit hat, im Gespräch mit anderen über seinen Egoismus hinauszuwachsen. Gleiches hat auch für den Gesamtwillen der Basisgruppen, ihre Gruppenegoismen, zu gelten. Deshalb müssen sie ihren Delegierten ein-räumen, auf der nächsthöheren Ebene durch die Argumente der Vertreter anderer Basisgruppen zu noch besserer Einsicht zu gelangen, als dies in der eigenen Gruppe möglich war. Kennzeichen eines guten Delegierten ist also nicht, daß er den politischen Willen seiner Gruppe auf Biegen und Brechen auf der nächsthöheren Ebene durchsetzt. Natürlich soll er dafür mit guten Argumenten eintreten. Aber wirklich fähig ist er nur, wenn er die evtl. bessere Einsicht, die er aus dem Gespräch mit den Delegierten der anderen Gruppen gewonnen hat, vor seiner eigenen Gruppe so verantworten kann, daß dieser eine Zustimmung zu den neuen Ergebnissen möglich wird. Die Änderung der Meinung einer Basisgruppe braucht Zeit. Würde die Vertrauensfrage gegenüber dem Delegierten bei jeder seiner abweichenden Abstimmungen im Kreisparteirat oder auf höherer Ebene sofort gestellt, hätte der Delegierte keine ernsthafte Möglichkeit, seine abweichende Haltung verständlich zu machen, und die Gruppe nähme sich die Möglichkeit, in eine neue Erkenntnis hineinzuwachsen.
V.
Natürlich dürfen Diskussion und Vermittlung nicht endlos dauern. Irgendwann muß eine verbindliche Entscheidung fallen. Vor einer endgültigen Entscheidung sollte jedes Problem auf allen Ebenen, die dies wünschen, diskutiert werden. Da-nach soll entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip auf möglichst niedriger Ebene, auf der das Problem sinnvoll entscheidbar ist, endgültig entschieden werden. Wollen mehrere Ebenen das Problem endgültig entscheiden, und kann trotz nochmaliger Abwägung der Argumente keine Einigung erzielt werden, entscheidet der Parteitag der höheren Ebene. Jede Entscheidung muß korrigierbar sein, sobald neue Argumente auftauchen. Weiterhin ist zu überlegen, wie bei Entscheidungen nicht nur der demokratische Weg, sondern auch die Einbeziehung spezieller Sachkompetenz abzusichern ist. Über den sachgemäßen Ort der Entscheidung sollte kein Beschluss gefasst werden, ohne daß die entsprechenden Arbeitsgruppen sowie unabhängige Sachverständige gehört wurden.
Vl.
Ein wesentlicher Vorteil der Rätestruktur besteht darin, daß es sehr konkrete Zuordnungen der Delegierten gibt, die von ihnen beachtet und gepflegt werden müssen, um wiedergewählt zu werden. Umgekehrt wird die Basisgruppe mit den wirklich relevanten Themen beschäftigt, die sie selber einbringen oder die der Delegierte mitbringt. So wie der oder die Bundestagsabgeordnete seinem/ihrem Wahlkreis zugeordnet ist, wird auch in der Parteistruktur der Delegierte aufs Engste mit der ihn delegierenden Ebene und seiner Basisgruppe verbunden sein. Die Versamm-ungen der Basisgruppen wären dann von ganz anderer Brisanz als heute, weil die Mitglieder im gesamten Meinungsbildungsprozeß der Partei Wesentliches mitzuentscheiden haben.7
Eine Gefahr bei den Parteiräten könnte darin liegen, daß die dort versammelten Delegierten sich auf Dauer „zu gut“ verstehen. Das könnte, trotz Rückbindung an die Basisgruppen, manipulative Wirkungen mit sich bringen. Darum erscheint es sinnvoll, die Vorsitzenden der Räte zwar aus diesen Gruppen vorschlagen zu lassen, sie dann aber zusammen mit weiteren Gegenkandidaten auf einer Vollversammlung bzw. einem Parteitag der entsprechen den Ebene zur Wahl zu stellen. Außerdem ist zu überlegen, ob auf den höheren Ebenen eine Art „Mischsystem“ sinnvoll wäre, bei dem zu den in die Räte entsandten Delegierten weitere Personen auf dem Parteitag hinzugewählt werden.8 Dadurch Hätten fähige Leute, die durch unglückliche Konstellationen in ihrer eigenen Basisgruppe oder auf höheren Ebenen nicht zum Zuge kamen, noch einmal eine Chance. Es ist z.B. möglich, daß in einer Basisgruppe besonders viele gute Leute beheimatet sind, diese aber, weil nur zwei Delegierte zu wählen sind, gar nicht alle eine Chance bekommen können. Es wäre jedoch zugleich zu überlegen, ob die so Hinzugewählten nicht doch noch einmal der Bestätigung durch die Gruppe bzw. Ebene bedürfen, in der sie beheimatet sind, damit nicht ausgesprochen unliebsame Leute, die eine Gruppe ausdrücklich nicht wählen wollte, über die Gesamtpartei doch wieder hineingedrückt werden.
Grundsätzlich sei bemerkt, daß sich eine Partei-Strukturreform nicht allein an der Frage der vermeintlichen Effektivität ausrichten darf. Es ist auch ein Recht jedes Menschen, Fehler machen zu dürfen und aus Fehlern zu lernen. Darum darf es m.E. nicht Aufgabe der Strukturreform sein, Fehler von vornherein auszuschließen. Denn wer will im vorhinein bestimmen, was Fehler sind und was, obwohl es zu-nächst als abwegig erscheint, ein zukunftsweisender Lösungsansatz sein könnte. Das gilt auch im Blick auf die Auswahl leitender Persönlichkeiten. Entscheidend ist, ob im Konfliktfall die jeweilige Gruppe, weil sie den Kandidaten im Gegen-satz zu den Parteitagen aus der Nähe gemeinsamer Diskussionen kennt, das Zünglein an der Waage bleibt.
VII.
Um dem Filz und der Überalterung in den leitenden Parteigremien zu wehren, haben wir in Schwante eine Zwei-Drittel-Mehrheit als Hürde für die Wiederwahl nach dem 8 Leitungsjahr eingebaut. Außerdem sollte der Amterhäufung und Vermischung von Partei- und Staatsinteressen ein Riegel vorgeschoben werden. Leider wird vor allem letzteres nicht immer durchzuhalten sein. Dennoch muß alles dafür getan werden, damit unterschiedliche Ämter nicht in einer Person vereinigt werden. Das führt nicht nur zu unerwünschter Machtfülle und mangelnder Auf-gabenerfüllung durch permanente Überlastung. Es schmälert vor allem das kon-krete Übungsfeld für begabte Nachwuchskräfte.
Die eigentliche politische Willensbildung geschieht in den Basisgruppen und übergeordneten Räten. Parteitage dienen der Selbstvergewisserung und Verbreiterung schon geschehener Meinungsbildung nach innen und nach außen. Außerdem ist es sinn-voll, die auf der Räte-Ebene für die Kandidatur gewählten Spitzenpolitiker hier noch einmal zur Wahl zu stellen. Denn sie, die sich in einer Region hervorgetan haben, können die Politik der Gesamtpartei nur vertreten, wenn sie auch in den anderen Regionen akzeptiert werden. Es ist im übrigen schon jetzt so, daß auf dem Bundesparteitag keine eigentlichen Wahlen mehr stattfinden, sondern die einzel-nen Landesverbände ihre Kandidaten durch untereinander im Vorfeld ausgetauschte „Tickets“ durchbringen. Um so dringlicher ist es. daß im Gegensatz zur bisherigen Praxis schon bei der Aufstellung für eine solche Kandidatur geheime Wahlen an die Stelle offenen Abstimmungen treten.
VIII.
Zum Schluß möchte ich dem Einwand begegnen, eine solche innerparteiliche Rätestruktur sei viel zu umständlich und zeitaufwendig für eine moderne Partei, die schnell reagieren muß. Der Entscheidungsweg der Räte-Struktur ist m.E. gar nicht so lang. Wir hätten in Deutschland etwa 5 Ebenen zu berücksichtigen. Zum Beispiel könnten regelmäßig an jedem 1. Donnerstag im Monat die Basisgruppen tagen. An jedem 2. Montag käme der Orts- bzw. Wohnbezirks-Parteirat zusammen. Am 3. Montag träfe sich der Kreisparteirat, jeden 4. Montag der Landesparteirat. Am 1. Montag im Monat könnte dann der Bundesparteirat seine Be-schlüsse fassen sowie die auf allen Ebenen gesammelten Problemfelder den Gruppen zur nächsten Beratungsrunde zuleiten. In besonders dringenden Fällen könnte das zu entscheidende Problem, sagen wir, am Montag benannt werden. Alle Mitglieder würden durch die Vorsitzenden telefonisch oder per E-mail zur Sitzung der Basisgruppen am Dienstag eingeladen. Das Ergebnis könnte am Mittwoch im Wohnbezirksrat, am Donnerstag im Kreispar-teirat behandelt werden. Am Freitag käme der Landesparteirat zusammen, und am Sonnabend könnte im Bundesparteirat auf Grundlage der Meinungsbildung aller Mitglieder Erdgültiges entschieden werden. Wenn man bedenkt, wie lange so manche Entscheidung in der SPD bisher gedauert hat, wäre dies ein ausgesprochen kurzer Weg. Vor allem aber handelt es sich dann nicht nur um eine mehr oder weniger mechanische Abstimmung, wie auf den großen Parteitagen, sondern um einen viel intensiveren Austausch von Argumenten und Gegenargu-menten. Solche Beschlüsse sind dann nicht nur die Summe der Gedanken einzelner Mitglieder. Sie besitzen vielmehr eine neue Qualität.
Gerade weil es so schwer, wenn nicht aussichtslos erscheint, daß der Rätegedanke in unserem parlamentarischen System als Ganzem Einzug hält,9 sollten wir ihn wenigstens innerparteilich fruchtbar werden lassen. Auf diese Weise wird es uns gelingen, sowohl der Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft zu entsprechen als auch die unterschiedlichsten Sichtweisen auf repräsentative Weise in den Entscheidungsprozeß einfließen zu lassen. Neue Aktivitäten werden freigesetzt, wo Menschen ernst genommen werden, in allem mitbestimmen können, und die werden. Das führt nicht nur zu unerwünschter Machtfülle und mangelnder Auf-gabenerfüllung durch permanente Überlastung. Es schmälert vor allem das kon-krete Übungsfeld für begabte Nachwuchskräfte.
Die eigentliche politische Willensbildung geschieht in den Basisgruppen und den Riten. Parteitage dienen der Selbstvergewisserung und Verbreiterung schon geschehener Meinungsbildung nach innen und nach außen. Außerdem ist es sinn-voll, die auf der Räte-Ebene für die Kandidatur gewählten Spitzenpolitiker hier noch einmal zur Wahl zu stellen. Denn sie, die sich in einer Region hervorgetan haben, können die Politik der Gesamtpartei nur vertreten, wenn sie auch in den anderen Regionen akzeptiert werden. Es ist im übrigen schon jetzt so, daß auf dem Bundesparteitag keine eigentlichen Wahlen stattfinden, sondern die einzel-nen Landesverbände ihre Kandidaten durch untereinander im Vorfeld ausge-tauschte „Tickets“ durchbringen. Um so dringlicher ist es, daß im Gegensatz zur bisherigen Praxis schon bei der Aufstellung für eine solche Kandidatur geheime Wahlen an die Stelle der offenen Abstimmungen treten.
VIII.
Zum Schluß möchte ich dem Einwand begegnen, eine solche innerparteiliche Rätestruktur sei viel zu umständlich und zeitaufwendig für eine moderne Partei, die schnell reagieren muß. Der Entscheidungsweg der Räte-Struktur ist m.E. gar nicht so lang. Wir hätten in Deutschland etwa 5 Ebenen zu berücksichtigen. Zum Beispiel könnten regelmäßig an jedem I. Donnerstag im Monat die Basisgruppen tagen. An jedem 2. Montag käme der Orts- bzw. Wohnbezirks-Parteirat zusam-men. Am 3. Montag träfe sich der Kreisparteirat, jeden 4. Montag der Landes-parteirat. Und am I. Montag im Monat könnte der Bundesparteirat seine Be-schlüsse fassen sowie die auf allen Ebenen gesammelten Problemfelder den Gruppen zur nächsten Beratungsrunde zuleiten. In besonders dringenden Fällen könnte das zu entscheidende Problem. sagen wir, am Montag benannt werden Alle Mitglieder würden durch die Vorsitzenden telefonisch (Zukunftsmusik für die neuen Länder) zur Sitzung der Basisgruppen am Dienstag eingeladen. Das Ergebnis könnte am Mittwoch im Wohnbezirksrat, am Donnerstag im Kreispar-teirat behandelt werden. Am Freitag käme der Landesparteirat zusammen, und am Sonnabend könnte im Bundesparteirat aufgrund der Beteiligung der Sichtwei-sen aller Mitglieder Endgültiges entschieden werden. Wenn man bedenkt, wie lange so manche Entscheidung in der SPD bisher gedauert hat, wäre dies ein aus-gesprochen kurzer Weg. Vor allem aber handelt es sich dann nicht nur um eine mehr oder weniger mechanische Abstimmung. wie auf den grollen Parteitagen. sondern um einen viel intensiveren Austausch von Argumenten und Gegenargu-menten. Solche Beschlüsse sind dann nicht nur die Summe der Gedanken einzelner Mitglieder, sondern besitzen eine neue Qualität.
Gerade weil es so schwer, wenn nicht aussichtslos erschein!. daß der Rätegedanke in unserem parlamentarischen System als Ganzem Einzug hält°, sollten wir ihn wenigstens innerparteilich fruchtbar werden lassen. Auf diese Weise wird es uns gelingen, sowohl der Vielgestaltigkeit unserer Gesellschaft zu entsprechen als auch die unterschiedlichsten Sichtweisen auf repräsentative Weise in den Ent-scheidungsprozeß einfließen zu lassen. Neue Aktivitäten werden freigesetzt, wo Menschen ernst genommen werden, in allem mitbestimmen können, und die Strukturen ein erfolgreiches, gemeinsames Handeln ermöglichen. Darum plädiere ich, wie schon in Schwante so auch jetzt, für eine innerparteiliche repräsentative Rätedemokratie.
Anmerkungen:
* erschienen in: Vorwärts, rückwärts, seitwärts, Peter v. Oertzen, SPW-Vlg. 1991
1 So § 11 a-d sowie §§ 16, 18 und 28 des Statuts der SDP vom 7. Oktober 1989.
2 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, Serie Pieper 1974.
3 Vgl. Konrad Elmer, Auf den Anfang kommt es an! In: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 2/1991,
S.136-140
4 Sicher hängt das Problem der Parteimüdigkeit auch mit den sonstigen Überforderungen zusammen,
die eine moderne, hochtechnisierte Gesellschaft dem Einzelnen zumutet. Unternehmen begegnen diesen Beanspruchungen durch ein Management mit entsprechender Bezahlung. Eine Partei ist aber keine Firma. Kraft und Wirkung erwachsen dem freiwilligen Engagement ihrer Mitglieder.
5 Diese Forderung ist, wenn auch in harmlosestem Sinn, in den vorn Vorstand zusammengestellten „Materialien
und Thesen zur organisatorischen Erneuerung und Modernisierung der SPD, zu finden: „Die Ortsvereine sind
die Orte der demokratischen Willensbildung der Partei…“ (S. 5). Eine angemessene Größe der Ortsvereine
erleichtert das gegenseitige Kennenlernen und das Gespräch.“ (S. 30)
6 Vgl. Björn Engholm: „Laßt uns den Versuch unternehmen, mit all jenen ins Gespräch zu kommen, die selbstbewußt und selbständig arbeiten, den Weg zur Partei aber noch nicht ge-funden haben… Diese Offenheit…ist zugleich eine Überlebensnotwendigkeit für jede große Volkspartei.“ (Rede auf dem Bundesparteitag in Bremen am 29. 5.1991.
7 Vgl. Björn Engholm: „Wir werden…als Partei um so erfolgreicher sein, je weniger wir unsere Vorhaben
an den Vorstandstischen hinter verschlossenen Türen formulieren. Erst eine Partei, die eine offene und
breite Diskussion mit den Menschen vor Ort, dort, wo die Sorgen herrschen, aufnimmt…, erst eine solche
Partei wird im Zentrum der Entwicklung stehen… Ich plädiere…dafür, den Einfluss der Mitglieder, der
Gliederungen, vom Ortsverein über den Kreisverband bis zum Parteirat zu stärken. Wir haben auch in
der Zukunft einer gewandelten Gesellschaft keine besseren Meinungsbildner und Multiplikatoren als die
Hunderttausende von Mitgliedern und Sympathisanten unserer Partei.“ (a.a.O.. S.12 u. 13)
8 Vgl. § 16 des Statutes der SDP. Wir sollten dennoch z.B. bei der bevor-stehenden Verfassungsreform
darauf drängen, daß. wie auf Bundesebene im Bundesrat die Länder, so auf Landesebene in einem neu
zu schaffenden „Landesrat“ die Kreise und auf Kreisebene in einem „Kreisrat“ entsprechend die
Kommunen stärkeres politisches Gewicht bekommen.
9 Björn Engholm, a.a.O., S.1