Konrad Elmer-Herzig Texte und Reden von Konrad Elmer-Herzig

5. November 2009

4 Thesen zur Erinnerung an den 4. 11. 1989

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1. Es ist nicht gelungen, den Wunder-bewirkenden Geist der friedlichen Revolution des Herbstes 89, den Geist der freien politischen Betätigung der Bürgerinnen und Bürger („Wir sind das Volk“) auf Dauer wirksam werden zu lassen.

2. Dazu hätten wir den Runden Tischen eine von unten (Wohnbezirk) nach oben (Stadt, Region, Land, Bund) repräsentative Struktur durch gewählte Delegierte für die jeweils nächsthöhere Ebene geben müssen. Nur so hätten die Runden Tische dem Entmachtungsargument der Parteien begegnen können: „Ihr seid ja gar nicht repräsentativ, nicht demokratisch legitimiert, wie wir, die wir aus den ersten freien Wahlen hervorgegangenen sind“.

3. Inzwischen merken immer mehr Menschen, vor allem auch die, welche in den Parteien tätig sind, dass die Parteiendemokratie, wegen der innerparteilichen Hierarchie, der Würde eines freien Bürgers abträglich ist. Er muss nämlich, will er in diesen Strukturen erfolgreich sein, sich den Oberen andienen. Und wenn er selber Oben ist und noch einen Funken Würdebewusstsein besitzt, wird ihn das Andienen der unteren Ränge anwidern. Es gibt in diesen Strukturen keine wirkliche Freiheit. Freiheit benötigt den relativ herrschaftsfreien Raum eines runden Tisches, an dem ein seiner Würde bewusster Mensch als Gleicher unter Gleichen das Wort ergreifen kann.

4. Das während der friedlichen Revolution Versäumte lässt sich nachholen. Jeder könnte jederzeit in seinem Wohnbezirk mit einem Runden Tisch freier politischer Kommunikation beginnen, um diesen später mit entsprechenden Tischen in benachbarten Wohnbezirken zu vernetzen, um mit den gewählten Delegierten Runde Tische höherer Ebene zu bilden. Dann wird sich zeigen, dass diese Art der politischen Legitimation gegenüber der der Parteiendemokratie sich auf Dauer als die wahrhaftige erweist.

Potsdam, am Reformationstag 2009

„Sie werden kommen von Osten und Westen,
von Norden und Süden und zu Tisch sitzen
im Reich Gottes.“ Lk 13,29

„…wie im Himmel, so auf Erden“ Mt 6,10

28. Oktober 2009

Das Wesen der Häresie

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THESEN
zur öffentlichen Verteidigung der Dissertation

Das Wesen der Häresie
Untersuchungen zum Häresieverständnis Karl Barths
im Zusammenhang seiner theologischen Erkenntnislehre

vorgelegt von Konrad Elmer
1.    Jeder Bestimmung von Häresie muß die Erarbeitung reiner Lehre vorausgehen. Eine bloß negative Aus-einandersetzung wird selbst häretisch.
2.    Schon vom Erkenntnisgrund an trennt sich der Weg der reinen Lehre von dem der Häresie. Alle späteren Differenzen sind Konsequenzen der hier gefallenen Entscheidung. Darum ist das Häresieproblem primär im Zusammenhang der Erkenntnislehre zu verhandeln.

A
Der Erkenntnisweg zur Bestimmung reiner Lehre
I. Das Ereignis des Wortes Gottes

3. Barth fragt nach der Bedingung der Möglichkeit des Anspruchs kirchlicher Rede, Rede von Gott zu sein. Dieser Anspruch besteht nur dann zu Recht, wenn es ein Wort Gottes selber gibt, das ein die Kirche ermöglichendes kritisches Gegenüber der Kirche bleibt.
4. Allein die Geschichte Christi ist das Wort Gottes, dessen wahrhaftiger Zeuge Jesus Christus selber ist. Seine Autorität ist aus dem Zusammenhang der Welt unableitbar, dem Glauben aber selbstverständlich.
4.1.     An die Stelle der Lehre von den „drei Gestalten des Wortes Gottes“ (KD 1/1) tritt in Barths Versöhnungslehre (KD IV/3) die strenge Unterscheidung zwischen Jesus Christus, dem einzigen Wort Gottes und den ihm entsprechenden „anderen wahren Worten“.
4.2.    Das Sein Jesu Christi ist nun das einzige Sakrament, das sich allein selbst vermittelt.
4.3.    Barths geschichtliche Interpretation der Zweinaturenlehre ist unzureichend, weil nicht in der Lage, der Frage nach dem historischen Jesus ihr theologisches Recht einzuräumen. Mit der Rückfrage nach dem historischen Jesus besteht die Theologie auf der Geschichtlichkeit der Offenbarung als einem wesentlichen Kriterium reiner Lehre.
5. Das Selbstzeugnis Jesu Christi geschieht im Zusammenhang mit den ihm entsprechenden Zeugnissen menschlich-geschöpflicher Art. Es gibt diese Zeugnisse in geordnet-abgestufter Reihenfolge als Heilige Schrift, als Verkündigung und als „wahre Worte extra muros ecclesiae“.
5.1.    Von der Geschichte Jesu Christi her ist die Schrift norma normata, gegenüber allen „anderen wahren Worten“  jedoch norma normans.
5.2.     Auch die Verkündigung wird nicht zum Wort Gottes selbst, sondern bleibt dessen gleichnishafte Entsprechung. Sie steht unter der Verheißung, daß sich das Selbstzeugnis Jesu Christi im Zusammenhang mit ihr ereignet.
5.3.     Die unbegrenzte Souveränität Jesu Christi nötigt Barth zur Lehre von den „wahren Worten extra muros ecclesiae“. Wahr sind solche Worte nur, wenn sie sachlich übereinstimmen mit dem Zeugnis von Schrift und Kirche. Die Bedeutung dieser irregulären Zeugen bleibt räumlich und zeitlich begrenzt.
5.4.    Das Zeugnis der Schöpfung möchte Barth lediglich als Selbstzeugnis verstanden wissen.
Dies ist m.E. eine unzulässige Abstraktion, denn ein wahres Selbstzeugnis der Schöpfung wird nur im Blick auf mehr als die Schöpfung und also nicht ohne Gottesbezug möglich sei.

5.5.    Zur Begründung einer alle Menschen betreffenden Schuld würdigt Barth in der postum veröffentlichten Ethik zur Versöhnungslehre das Zeugnis der ontologisch guten Natur des Menschen. Durch dieses Zeugnis hat sich Gott objektiv allen Menschen bekannt gemacht. Aufgrund der Sünde des Menschen wird das objektive Bekanntsein jedoch subjektiv nicht realisiert.
Weil Gottes objektives Bekanntsein aber wirksamer ist als unsere Sünde, kommt es auch bei   Menschen, die von den Zeugen Jesu Christi noch nicht erreicht worden sind, zu Gott betreffenden Ahnungen und Vermutungen. Diese führen allerdings über die Ambivalenz von Gottes Bekanntsein und seinem gleichzeitigen Unbekanntsein nicht hinaus. Sie können und dürfen als solche nicht systematisiert werden.

II. Theologie als dem Wort Gottes nachdenkende Bemühung um reine Lehre
6.       Die Wissenschaftlichkeit der Theologie ist ihre Sachbezogenheit.
6.1.    Theologie hat ihren Erkenntnisgegenstand auf dem von ihm selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen und zur Sprache zu bringen.
6.2.     Theologie ist eine grundsätzlich jedem Menschen zugängliche Denkbemühung, denn sie hat zwar die Äußerungen des Glaubens überhaupt, nicht aber, wie Barth fordert, mit Notwendigkeit den Glauben des Theologen selbst zur Voraussetzung.
7.       Zum sachgemäßen Verständnis der Offenbarung Gottes ist die Trinitätslehre unentbehrlich.
7.1.    Sie soll verhindern, daß das Sich-offenbaren-können Gottes als ein Zweites zum Sein Gottes erst hinzutritt. Nur wenn sich Gott von Ewigkeit her selbst gegenständlich ist (primäre Gegenständlichkeit), kann er sich auch seinem Geschöpf als einem anderen gegenständlich offenbaren (sekundäre Gegenständlichkeit).
7.2.     Die „sekundäre Gegenständlichkeit“ der Offenbarung ist die Geschichte des Menschen Jesus. Damit die Natur dieses Menschen nicht der Offenbarung als ein eigenständiger Ermöglichungsgrund gegenübertritt, setzt Barth die Erwählung dieses Menschen zum Bundesgenossen als inneren Grund der Schöpfung voraus. Auf diese Weise läßt er Sein durch Geschichtlichkeit konstituiert sein und bestimmt schon die Schöpfung als Gnade.
7.3.     Eine stringente Begründung der Trinitätslehre wird erst im Rahmen einer über Barth hinausgehenden staurozentrischen Theologie möglich, denn nicht der Offenbarungsbegriff als solcher, sondern erst der gekreuzigte Jesus als Christus nötigt das Denken, zwischen Gott und Gott zu unterscheiden.

8.       Jesus Christus ist der Vermittler aller Entsprechungsverhältnisse zwischen Schöpfer und Geschöpf in
ontologischer und noetischer Hinsicht.
8.1.     Ontologisch entspricht dem Sein des Menschen Jesus für Gott das Sein des Menschen in seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenossen, und dem Sein des Menschen Jesus für den Mitmenschen entspricht das Sein des Menschen mit dem Mitmenschen.
8.2.    Weil der Mensch sein Sein nur hat, indem er existiert, hat er als Mensch der Sünde seine gute Natur faktisch nur im Ereignis des Verderbens.
Der Glaube erst bringt den Menschen in die seinem Sein entsprechende Existenz. Darum gibt es für Barth keine analogia entis, sondern nur eine analogia fidei.
9.       Die Theologie ist, indem sie sich der Sprache bedient, immer auch Philosophie.
9.1.    Barth empfiehlt einen eklektischen Gebrauch philosophischer Begriffe.
9.2.     Begriffe sind jedoch keine leeren Hülsen, die man nach Belieben mit theologischen Inhalten füllen könnte. Sie bringen in die neue Umgebung ihre alten Inhalte immer auch mit und prägen den Denkhorizont. Daher ist eine die theologische Brauchbarkeit philosophischer Begriffe prüfende Besinnung vonnöten.
10.    Stärker als bei Barth muß zwischen begrifflich-dogmatischem Denken und kerygmatischer Predigt unterschieden werden.
10.1.     Die Wahrheit der Offenbarung gibt es nicht in Form vorhandener Sätze, sondern nur als Ereignis. Der Ort, an dem sie Ereignis wird, ist die Metapher, weil hier das, wovon die Rede ist, in die Rede selbst einkehrt. Die metaphorische Rede wahrt den Ereignischarakter, indem sie den Entdeckungscharakter wahrt. (E. Jüngel).
10.2     Die Predigt als Glauben gewährende Verkündigung des Evangeliums bezeugt kein System von Gedanken, sondern die Praxis Gottes in Jesus Christus. Sie lebt wesentlich von ansprechend-metaphorischer Rede.
10.3.     Die Begriffssprache des Theologischen Denkens kontrolliert die anredend-metaphorische Sprache der Predigt dahingehend, ob sie den Hörer auf die Geschichte Jesu Christi verweist. Dabei kommt es zur Formulierung der Lehre. Deren Reinheit hängt davon ab, ob sie ihrerseits auf die Wahrheit in Jesus Christus verweist und ob sie in je neuer Predigt praktisch werden kann.
10.4.     Reine Lehre ist ein Zielbegriff der Dogmatik und gehört, sofern sie am Geschick des Denkens partizipiert, auf die Seite des Gesetzes. Sie hat die Aufgabe, die Offenbarung jeweils neu in ihr Ereignis zurückzudenken. Dieses Ereignis ist mehr als ein Augenblicksgeschehen; es macht Geschichte.
11.     Das Bekenntnis ist eine Zusammenfassung reiner Lehre durch die Kirche als Ganze. Es antwortet auf das
Ereignis der Offenbarung und dient zur Abwehr konkreter Häresie.
Entscheidender Bekenntnissatz für die Auseinandersetzung mit den häretischen Lehrmeinungen der
Gegenwart ist für Barth die These 1 der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu  hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

B
Das paradoxe Faktum der Häresie
I. Natürliche Theologie als Häresie der Gegenwart

12.   Entscheidendes Kriterium zur Bestimmung gegenwärtiger Häresie ist für Barth die Damnation von
Barmen 1:
„Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
13.    Derartige „Nebenzentren“ zur Wahrheit in Jesus Christus entstehen durch die natürliche Theologie. Barth unterscheidet zwei komplementäre Erscheinungsformen: Die „Kirche im Exzeß“ und die „Kirche im Defekt“.
13.1.    Die „exzessive‘ Kirche identifiziert das eine Wort Gottes mit den anderen wahren Worten, vor allem mit denen der Kirche. Sie verfügt über die Wahrheit, die doch nur als unverfügbares Ereignis zu haben ist, und setzt sich damit selbst an die Stelle des lebendigen Herrn. Barth denkt hier vor allem an die römisch-katholische Kirche und benennt als erkenntnistheoretischen Fehlansatz die durch E. Przywara interpretierte Lehre von der analogia entis. Die eigentliche Intention dieser Lehre hat Barth jedoch nur unzureichend erkannt.
13.2.     Die „Kirche im Defekt“ ist ihrer Sache nur halb gewiß. Statt sich an die Wirklichkeit der Offenbarung zu halten, sucht sie Schutz bei irgendeiner Philosophie, um von dort aus zuerst nach der Möglichkeit des Glaubens zu fragen.
Als „Ahnherrn“ dieser Häresie nennt Barth Schleiermacher, ist sich aber dessen Zeit seines Lebens nicht sicher. Deutlichster Exponent sind die „Deutschen Christen“ Auch Bultmanns Theologie, die Barth weithin mißversteht, wird von ihm der Häresie verdächtigt.
14. Die natürliche Theologie der „exzessiven“ wie der „extravertierten“ Kirche hat zwar nicht das völlige Unbekanntsein Gottes zur Folge, da Gottes Selbstkundgabe unüberwindlich auch in diesen Kirchen wirksam ist. Es entsteht jedoch nun auch in der Kirche jene unfaßbare Ambivalenz zwischen Gottes Bekanntsein und seinem gleichzeitigen Unbekanntsein.
Statt dem konkret-offenbaren Geheimnis Gottes in Jesus Christus nachzudenken, erstellt das Denken selbst einen abstrakten Gottesbegriff; bei dem dann Gott nur noch unzureichend, weil nicht konkret, vom Sein der Welt zu unterscheiden ist.
15. Zur particula veri natürlicher Theologie gehört ihr Interesse an der Menschlichkeit Gottes und an dem universalen Anspruch der Offenbarungsgeschichte. Beides bringt Barth in besonderer Weise zu Ehren durch sein christozentrisches Denken von ontologischer Relevanz:
Die Menschlichkeit Gottes entfaltet er in der Lehre vom Sein Jesu am Anfang bei Gott und den
universalen Anspruch der Offenbarung in der Lehre vom ontologischen und noetischen Zusammenhang
zwischen Jesus Christus und allen übrigen Menschen.
Das Geheimnis der Menschlichkeit des Menschen in Jesus Christus ist der „Anknüpfungspunkt“, nach dem
alle natürliche Theologie so vergeblich sucht.

II. Häresie als „christliches“ Lügenwerk
16. Die Häresie unterläuft die subordinierten Entsprechungsverhältnisse der unterschiedlichen Zeugen Jesu Christi, indem sie andere wahre Worte niederer Stufe gleichberechtigt neben die einer höheren Stufe stellt.
17.  Barths Ausführungen zur Häresie entsprechen seinen Analysen zum Wesen der spezifisch „christlichen“ Lüge (KD IV/3). Zwar hat er selbst dies nicht expliziert, es ergibt sich aber aus dem Zusammenhang seines Denkens:
17.1.    Um Häretiker zu werden, muß man der Wahrheit in Jesus Christus schon direkt begegnet sein.
Das unterscheidet die Häresie vom Unglauben in Atheismus, Religion und Nostrifikation.
17.2.     Dem wahrhaftigen Zeugen Jesus Christus gegenüber aber kann der Mensch aufgrund des ontologischen Zusammenhangs keine neutrale Haltung einnehmen. Eine Ignorierung ist nur noch in Form der Lüge möglich. Der Lügner weicht vor der Wahrheit mit der „Wahrheit“ aus.
18.     Die schon geschehene Zueignung des neuen Seins in Christus unterscheidet m.E. nicht nur den. Glaubenden, sondern auch den Häretiker vom Ungläubigen. Sie ist die Bedingung der „Möglichkeit“ des simul credens et haereticus.
18.1.    Das neue Sein des Menschen extra se in Christus wird dem Glaubenden schon jetzt als „Sein des Übergangs“ vom Sünder zum Gerechten zugeeignet. (W. Krötke).
Erst aufgrund dieser Zueignung wird es „möglich“, als iustus der Wahrheit direkt zu begegnen und ihr dennoch als peccator lügnerisch auszuweichen.
18.2.     Häresie ist der Versuch des Glaubenden als Sünder, die ‚unumkehrbare’ Folge des Übergangs vom peccator zum iustus dennoch umzukehren und so die Wahrheit der Lüge nutzbar zu machen. So lügt er sich im Versuch der Selbstsicherung aus der Geschichte des Übergangs in den vermeintlichen Stand des schon Übergegangenen.
18.3.    Häresie ist Glaube im Ausweichen – ein Glaube, der in der Kraft seiner Wirklichkeit vor dieser Wirklichkeit flieht, ohne wirklich von ihr loszukommen.
19. Daraus ergibt sich folgende Definition zum Wesen der Häresie:
Häresie ist die unmögliche Faktizität „christlicher“ Lehre als Lüge
im Horizont des simul iustus et peccator,
die angesichts des Ereignisses der Wahrheit
Jesus Christus als dieses Ereignis
auf verdeckte Weise leugnet.

20.     Da die Lüge im Unterschied zur Wahrheit nicht einmal sich selbst treu bleibt, müssen alle Definitionsversuche zur Häresie in besonderer Weise zeitgebundene Versuche bleiben.
21.     Die Feststellung einer neuen Häresie kann nicht Aufgabe der Dogmatik sein. Sie geschieht durch die Kirche als Ganze im Zusammenhang einer neuen Bekenntnisentscheidung. Entsprechend Barths christozentrischem Häresiebegriff muß sich jede Häresie als eine christologische erweisen.
22.     Weil sachgemäße Theologie die eigene theologische Wirklichkeit nicht mit der Wahrheit verwechselt, wird sie auch nicht die vielfach fatale theologische Wirklichkeit anderer mit der Unwahrheit identifizieren. Vielmehr wird sie Wahrheitsanliegen und Lüge zu differenzieren versuchen.

23.    Jede Häresiebestimmung zielt auf die Sache, nicht auf die Person, die auch im schlimmsten Fall aufgrund
der unverlierbar guten Seinsstruktur von der Sünde unterscheidbar bleibt.
24. Die Überwindung der Häresie wird zuerst und vor allem die Sache Jesu Christi selber sein. Unsere Bewältigung des Problems steht und fällt mit der in ihm begründeten Siegesgewißheit. Das ihr entsprechende christliche Tun besteht darin, den „Vorrang des Wortes Gottes“ zu bedenken und durch unser Handeln zu bestätigen.
25. Keine Kirche kann so tief fallen, daß ihr Seinsgrund ins Wanken käme. Sie bleibt Kirche, wenn auch Kirche im Ausweichen vor ihrem eigenen Wesen.
Man wird die Häresie dabei behaften müssen, daß sie selbst Kirche sein möchte und sie auf Jesus
Christus als ihren Seinsgrund verweisen. Eine Trennung von ihr kann für Barth höchstens praktische,
nicht aber grundsätzliche Bedeutung haben.
26.    Solche Gelassenheit entspricht der Siegesgewißheit im Blick auf Jesus Christus. Die Lüge hätte es nur zu gern, feierlich bekämpft zu werden, denn eine Wahrheit, die zu ihrer Durchsetzung Gewalt benötigt, würde sich selbst als Wahrheit desavouieren. Stattdessen wird es darauf ankommen, daß der Häretiker als Verkündigung ein befreiendes Wort hört und als Lehre eine Dogmatik, die den „Vorrang des Wortes Gottes“ wahrt.
27.     Wenn die Kirche gar nicht zur Un-Kirche werden kann, weil die Herrschaft Jesu Christi auch in der häretischen Kirche noch immer größer ist als die der Lüge, so wird man m.E. auch einer häretisch lehrenden Kirche die kirchliche Gemeinschaft anbieten können. Voraussetzung einer solchen Union wäre allerdings, daß der Streit um Wahrheit und Lüge ungehindert weitergeht.
28.     Die ontologische Relevanz der christologischen Begründung Barthscher Theologie garantiert, daß das die christlichen Kirchen Verbindende in jedem Fall größer ist als das Trennende. Sie ermöglicht die Vision einer Kirche, die die Häresien für immer in sich selbst austrägt.

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